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Alle psychischen Störungen, die durch bewusste Klärung noch nicht oder nicht mehr überwindbar sind, können dadurch überwunden werden, dass man sie vergisst und nicht zu genau betrachtet. Der Knoten, an dem das Leben sich jeweils staut, kann nicht rationell aufgelöst und muss immer wieder zeitweilig gelockert werden. Insofern nämlich als Bewusstwerdung, Aufmerken, bewusstes Apperzipieren von Reizen, allemal Verengung und Konzentration der Seelenbewegung an einem individuellen „Punkte“ in sich schliesst, ist es schon seiner Natur nach mit Unlust verbunden. Das „Bewusstsein“ entbehrt zum mindesten jener eigentümlichen Note lebendiger Kraft, die in allen Erlebnissen der Freude schwingt. Denn Freude schliesst umgekehrt nicht Konzentrierung, sondern Erweiterung des Ichbewusstseins in sich, bis zur vollendeten Auflösung seiner selbst, bis zu jenem Gipfel, wo der Einzelne Alles umfasst und kein Gesondertes mehr bewusst begreift. Man bezeichnet in specie wohl den Wein als Quell des Vergessens oder als „Sorgenbrecher“, aber man könnte schliesslich an jedem Lusterlebnis (vom Genuss einer Zigarre bis zur Freude an einer Symphonie) das Moment der „Auflockerung der Gefühlsseite“ studieren, diese Abdämpfung des wachen Wissens, in dessen Fokus die affektive Energie der Seele sich aufstaut und schmerzlich sammelt. Ein Bestreben aber von der wachen Bewusstheit seiner selbst los zu kommen wurzelt zu tiefst in jedem Individuum. Sei es nun, dass die chaotische Unermesslichkeit der Fraglichkeiten und Probleme zu gross wird, um einheitliche Einfügung in ein Bewusstsein noch zu gestatten. Sei es, dass ein bestimmter Bewusstseinsinhalt, mit dem die Persönlichkeit sich nicht abfinden kann und der „wie ein bedrohlicher Block“ stauend im Bewusstsein liegt, für eine Weile fortgeschwemmt werden muss. Sei es endlich, dass der vulgäre Mensch das Bewusstsein seiner selbst als das einer leeren, inhaltlosen, kleinlichen oder missratenen Existenz zu fürchten hat. Immer verschreibt er sich den Mächten der Betäubung mit allem, was die Kulturgesellschaft Freude oder Vergnügen nennt. Man betäubt sich in den Genüssen der Stadt und Strasse. Man betäubt sich in Theater und Salon. Betäubt sich im Medisieren und Räsonieren. In dem üblichen Kunstgeschwätz und Philosophatsch der Journale und Zeitungen. Im Sport, oder im Kokettieren mit „sozialer Arbeit“. Übertäubt sich in Etiketten und konventionellen Sitten, in den luxuriösen Restaurants der Grossstadt, in armseligen Kellern und Spelunken; in den rohesten Ausschweifungen, in poetischen Flirts und religiösen Ekstasen. Was aber am wunderbarsten und beweisend für die Notwendigkeit dieser Rauschmächte des Lebens ist, das ist der Umstand, dass auch die rationell-bewusste, ethisch-intellektuelle Lebenshaltung, die den Charakter von Mühe, Askese und Arbeit trägt, sich aus einer künstlichen und zunächst unlustvollen Bindung des Lebens zu einem ganz neuartigen Reizmittel

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/13&oldid=- (Version vom 31.7.2018)