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und Sicherheit willen, sich beständig durch das Ohr zu orientieren. Der Mensch aber würde gerade vermöge seiner höheren nervösen Reizbarkeit in kurzer Zeit zugrunde gehen, wenn er alle Geräusche, die von seinem Gehöre perzipiert werden oder für sein Ohr perzipierbar sind, auch de facto apperzipieren wollte. Die notgedrungene Gewöhnung an Umgebungsgeräusche jeder Art, wie Zischen, Stossen, Kreischen, Pfeifen und Schreien bewirkt, dass beim Menschen durch andauernde Schwingung der vielen Gehörteile zahllose Nervenstränge chronisch erschlaffen. Sein Hören wird schliesslich zu einer rein empfindenden Tätigkeit und die unzähligen Einzelgeräusche im Hause und auf der Strasse kommen nicht mehr in sein wissendes Bewusstsein. In der Gewohnheit, nur komplexe Klänge zu apperzipieren, wissen wir schliesslich nicht mehr, aus welcher Art „Tönen“ Geräusche zusammengesetzt sind. Gleichwohl hören wir doch alle diese Töne und Untertöne feiner als jedes Tier. Darauf deutet sowohl die Möglichkeit der Klanganalyse, wie der anatomische Bau unseres Gehörorgans. Der Mensch besitzt zirka 15500 Hörzellen und wenn wir auch nur vermuten dürfen, dass jede einzelne Hörzelle auf einen anderen Ton abgestimmt ist, so können wir doch bei einiger Übung mindestens 4000 Töne mit voller Sicherheit unterscheiden. Wie fein aber ein Gehör ist, das auch nur 1000 Töne voneinander scheiden kann, ermessen wir an der Tatsache, dass unsere grössten Konzertflügel nur 87 Töne besitzen. Allein zwischen den Tönen a und b vermag das normale Menschenohr wenigstens dreissig weitere Zwischentöne wahrzunehmen. – Die Katze, die scheinbar viel feiner hört und jedenfalls auf den leisesten Ton reagiert, hat doch nur 1200; der Hase aber, der wiederum feiner hört als die Katze, hat nur 7000 Gehörzellen. Dieses alles beweist, dass die Abgestumpftheit des Menschen gegen leise und mittlere Geräusche keineswegs auf verminderte Empfänglichkeit seines Gehörsinns deutet. Man muss die Anregungsschwelle und die Ausdrucksschwelle, die faktische Empfänglichkeit und den Ausdruck der Empfänglichkeit wohl unterscheiden.


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Niemand darf jedoch glauben, dass das ewige Schwingen in Ohr und Hirn, wenn es auch schliesslich nicht als bewusstseinweckende Hemmung empfunden wird und darum keine Reaktionen mehr auslöst, nun für menschliches Leben und menschliche Gesundheit gleichgültig geworden sei. Die Natur hat Schnecke und Cortisches Organ wohlweislich zutiefst in die Schädelhöhle gelegt, weil es von allen unsern Organen das komplizierteste und empfindlichste ist und mit der geistigen Bewusstheit des Menschengeschlechtes die innigste Verbindung besitzt. Hierauf deutet auch der entwickelungsgeschichtliche Umstand, dass seine Reife und Ausbildung die längste Zeitdauer erfordern. Denn wie überall das

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/35&oldid=- (Version vom 31.7.2018)