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Erstes Kapitel.

Psychologie der Betäubung.


„Kant hat eine Abhandlung über die lebendigen Kräfte geschrieben; ich aber möchte eine Nänie und Threnodie über dieselben schreiben, weil ihr überaus häufiger Gebrauch, im Klopfen, Hämmern und Rammeln mir mein Leben hindurch zur täglichen Pein gemacht hat. Allerdings gibt es Leute, ja recht viele, die hierüber lächeln, weil sie unempfindlich gegen Geräusch sind: es sind jedoch eben die, welche auch unempfindlich gegen Gründe, gegen Gedanken, gegen Dichtungen und Kunstwerke, kurz gegen geistige Eindrücke jeder Art sind: denn es liegt an der zähen Beschaffenheit und handfesten Textur ihrer Gehirnmasse.”
Schopenhauer.

Ungeheuerliche Unruhe, grauenhafte Lautheit lastet auf allem Erdenleben. Um sie in ihrer letzten Tiefe zu verstehen, ist es notwendig, zunächst zu zwei fundamentalen Seelenmächten hinabzusteigen, die an allen Gebilden der Menschenkultur weben und in allen Erscheinungen menschlicher Wirtschaft lebendig sind. –

Einmal schlummert in unserem Geschlechte die Neigung, das Leben zu immer höherer Geistigkeit emporzutreiben! Der Mensch strebt zum „Bewusstsein”. Über das dunkle Chaos seiner rastlosen Begierden und primitiven Leidenschaften wirft er das formende Netz vernünftiger Disziplin. Er gestaltet das Leben „rationell”. Er militarisiert und uniformiert es. Er bändigt und bindet es in „Vernunft”. – Dem aber widerstrebt eine zweite, ganz anders gerichtete und doch ebenso unausrottbare Seelenneigung: Das Bedürfnis nach Bewusstlosigkeit und Vergessen, unser Hang zu alle Dem, was das bewusste Wissen betäubt oder verdunkelt. Dieser Zug zum „Subjektiven” oder „Irrationalen” spricht sich gleichfalls in tausenderlei Gestaltungen der Wirtschaft aus. – So wie kein animalisches Lebewesen sich dauernd auf der Höhe bewusster Wachsamkeit, in schlafloser Gewecktheit zu erhalten vermag, keines den Wechsel von Nacht und Tag und den Wechsel zwischen Selbstbewusstheit und vegetativer Erneuerung im Schlafe entbehren kann,

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)