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halten sämtlich das „Krähwinkler Intelligenzblatt” und beziehen aus ihm ihre Geistesnahrung. Gesetzt, sie vereinten sich, einen luftigen Parterreraum ihres Proletarierhauses zum Lese- und Bibliothekzimmer herzurichten, so könnten dort täglich 25 verschiedene Zeitungen ausliegen und von jedem eingesehen werden, und es würde nicht mehr kosten als heute ein jeder für das „Krähwinkler Intelligenzblatt” bezahlt. Die Verbilligung und Verbequemlichung, der Gewinn an individueller Freiheit, Unabhängigkeit und Musse, der in kleinen und dürftigen Verhältnissen aus der Sozialisierung der äusseren Wirtschaft erblüht, ist so sonnenklar, dass ich nicht begreife, warum überhaupt noch nötig ist, diese Selbstverständlichkeiten zu wiederholen. Selbstverständlichkeiten freilich nur für bedürftige und kämpfende Menschen; nicht für jene, die in separierten Familienvillen mit dem Aufwande grosser Dienerschaft leben können und im Grunde alle Funktionen der Hauswirtschaft, ja sogar die Wartung und Pflege, und die ganze Erziehung und Bildung ihrer Kinder auf dienende Kräfte abgewälzt haben. Die Bevölkerungsschicht der Aktionäre aber ist in der Wirtschaftsreform schlechterdings nicht massgebend; wer sich das Leben ohnehin einrichten kann, wie er will, hat kein Verständnis und hat in der Regel auch kein Gefühl für das, was dem Leben notwendig ist.

Können aber auch jene, die in den Formen des kleinen Haushaltes leiden und verkümmern, die Notwendigkeit neuer Haushaltsformen nicht einsehen, nun, dann sollen sie auch nicht klagen. Dann lebt und sterbt meinethalben unter der Tyrannei all der toten Objekte! Lebt für die Reinlichkeit eurer Kochtöpfe und Wäscheschränke! Sterbt für die Tadellosigkeit eurer Räucher- und Speisekammern! Aber fordert nicht von mir, dass ich vor dieser Unsumme zwecklos verbrauchter Frauenkräfte Ehrfurcht empfinden soll! Fordert nicht, dass ich bewundre, wenn freie Seelen für das Ziel leben, dass das Kotelett gemäss der „Individualität” der Familie gebraten werde und die Gänsehaut genau so knusperig gerät, wie Papa das am liebsten hat. Ich verstehe nicht, verstand wohl niemals, was an der Hausfrau und Mutter vom „alten Schlage” gar so liebenswürdig und verehrenswert ist. Die Syssitien[WS 1] der Alten boten ein schöneres Bild als die deutsche Bürgersfrau am Kochherd. Und was ist das wohl für eine Sorte von „Individualismus”, die die feinsten Kräfte der Seele den subjektiven Gourmandisen des Magens opfert?… Frühzeitig verblüht, unliebenswürdig und verbittert, im ewigen Übermüdet- und Überhetztsein, im engen Dunstkreis der geliebten Küche, nie zur Selbstverantwortlichkeit, zum Stolz, zum eigensten Selbst gekommen, – so vergeht heute das normale Frauenleben. Auf dem Sterbebett aber kann sie sich sagen, dass sie treu und ehrlich stets dafür gelitten hat, dass ER mittags und abends „sein Leibgericht” bekam. –

Ich will euch verraten, was in Wahrheit hinter dieser Willkür


  1. Syssitien sind gemeinschaftliche tägliche Männermahle in den altdorischen Staaten Griechenlands
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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/67&oldid=- (Version vom 31.7.2018)