Seite:Der Lärm.pdf/70

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Aber was hat dies zu schaffen mit dem Zeitvertreib all der Müssiggeher, die sentimentale Melodien auf der Geige kratzen, Salonstücke und Tänze vortragen oder gar stolz darauf sind, dass sie Zither schlagen, auf der Guitarre die Zeit vertrödeln und allerlei Niedlichkeiten und Allerweltslieder vorführen können? Gewiss, wo tiefes, ernstes Leben entgegentritt, da besinn ich mich gern auf einen Spruch, mit dem Theodor Storm uns über Störungen durch unzeitige, unberufene Musik getröstet hat:

„In lindem Schlaf schon lag ich hingestreckt,
Da hat mich jäh Dein Geigenspiel erweckt,
Doch, wo das Menschenherz mir so begegnet
Nacht oder Tag, die Stunde sei gesegnet.“…

Soll nun aber jeder müssig herumlungernde, das Leben vertuende und vertändelnde Mensch, jeder Backfisch, jeder Student, dem die Musik nichts als gute Unterhaltung und angenehme Gefühlswallung zu bieten vermag, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht das Recht haben, in ernste, strenge Arbeit einzubrechen? Sollen sie mit ihren Fingerübungen und Etuden uns martern dürfen oder gar mit stundenlangen Solfeggien und platten lauten Gefühlsergüssen unser ganzes Tagewerk zerstören? Man klagt über die Unnatur unserer Lebensführung, bespöttelt und kritisiert den zunehmenden Hang der Gehirnkulis zu nächtlichem Schaffen. Aber dann gebt doch den Armen Lebensbedingungen, unter denen sie existieren können, unter denen ein nur auf die Kraft seiner Feder und die Gesundheit seines gemarterten Hirns angewiesener, beständig von der Gefahr des Hungerns oder des geistigen Zusammenbruches umlauerter Mensch noch zu schaffen und zu denken vermag… Ich weiss nicht, wie sich feine, zarte, empfindsame Gedanken in diesem Tagesleben erheben und halten sollen, wo man doch beständig von jeder Art Lärm und Geräusch umbrandet wird und wo zu alledem musikalische Aufregungen einwirken, die gerade den für Musik empfänglichen und reizbaren Menschen notwendig in ihr Interesse ziehen und Stimmungen, Dispositionen auf ihn übertragen, die er für seine Arbeit nicht ausnutzen kann, die ihn vielmehr nur zersplittern und ungenützt seine Seelenkräfte absorbieren. –

Im Gebiete der Sinneswahrnehmungen gibt es keinen tiefer einschneidenden Unterschied als den zwischen Menschen, die vorwiegend für Licht- und Farben-Intensität und -Verschiedenheit oder aber für Intensität und Verschiedenheit von Schall- und Gehörseindrücken empfindlich sind. Wer also zum „geistigen Typus” gehört, der wird Natur und Welt weniger in Form von visuellen, optischen Vorstellungen, als von motorischen Klang- und Wortvorstellungen verarbeiten. Er muss entsetzlich unter dem Dasein anderer leiden, die in weit höherem Grade auf konkretes direktes Wahrnehmen eingestellt und für alle die feineren, indirekten Vermittelungen durch das Ohr unzugänglich sind. Der Zwang

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/70&oldid=- (Version vom 31.7.2018)