Seite:Der Todesgang des armenischen Volkes.pdf/254

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

türkischen Rasse nicht nur die Vorherrschaft, sondern die Alleinherrschaft im Reiche zuerkannte, sollte mit allen Konsequenzen durchgeführt werden. 2. Das Reich sollte auf rein islamischer Grundlage aufgebaut werden. Der türkische Nationalismus und die panislamische Idee schlossen von vornherein jede Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten und Religionen des Reiches aus und jede Bewegung, die das Heil des Reiches in der Dezentralisation oder Selbstverwaltung der verschiedenen Reichsteile erblickte, wurde als Landesverrat gebrandmarkt. Die nationalistische und zentralistische Tendenz richtete sich nicht nur gegen die verschiedenen nicht–muhammedanischen Nationalitäten, Griechen, Armenier, Syrer und Juden (ehe der Balkan abgetrennt war, auch Bulgaren, Serben und Kutzowalachen), sondern auch gegen die nicht–türkischen Nationen, Araber, muhammedanische Syrer, Kurden und die schiitischen Volkselemente (vor dem Balkankriege auch gegen die Albanesen). Ein Pan-Turkismus wurde als Idol aufgerichtet, und gegen alle nicht-türkischen Volkselemente wurden die schroffsten Maßnahmen ergriffen. Das durch diese Politik vorgezeichnete rigorose Vorgehen gegen die Albanesen, die ja zum größten Teil Muhammedaner und bis dahin durchaus reichstreu waren, hat den Verlust fast der ganzen europäischen Türkei zur Folge gehabt. Ebenso hat es Aufstandsbewegungen in der arabischen Reichshälfte hervorgerufen, die durch verschiedene Feldzüge nicht unterdrückt worden sind. Der Konflikt mit dem arabischen Element besteht heute noch, trotzdem er durch den „heiligen Krieg“ bis zu einem gewissen Grade zurückgedrängt wurde. Die halbunabhängigen Kurdenstämme führten ihre Sonderpolitik und konspirierten teilweise mit Rußland. Das Reich kam aus den inneren Kriegen nicht heraus, und die Folge der kurzsichtigen Politik war der Verlust der afrikanischen und der europäischen Besitzungen bis auf den Rest von Thrazien, der während des zweiten Balkankrieges mit Adrianopel noch zuguterletzt zurückgewonnen wurde.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/254&oldid=- (Version vom 31.7.2018)