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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

der Widerspruch, die Stauung, die Not und der zu entwirkende Notstand.

„Erklärt“ ist für uns ein Phänomen dann, wenn wir seine Notwendigkeit begriffen haben. Diejenige Menschenschicht aber, welche wissenschaftlich arbeitet, praktisch und nutzbar, gibt sich nur selten Rechenschaft darüber, daß das Zurückführen der Phänomene auf Notstandsreihen eben zur Natur alles praktisch und faktisch eingestellten Erklärens gehört. Und so glauben philosophierende Dilettanten naiv immer wieder, etwas Wesentliches, etwas Neues gefunden zu haben und zu lehren, wenn sie Phänomene wie Schönheit, Liebe, Traum, Religion, Überschwang, Ekstase, Genialität, Phantasie, Bildschau und schließlich gar das Lebendige überhaupt „zurückführen“ auf irgendeine Sorte von Notstand und Entwirken von Stauungen und Störungen.

Der Baum blüht ... „Aus Angst vor dem Verdursten und zum Zwecke der Nahrungsaufnahme.“

Die Blume duftet ... „Um Insekten heranzulocken und zum Zwecke der Pollenbestäubung.“

Der Vogel singt ... „Um einen Brunstzustand abzureagieren und ein Weibchen zu locken.“

Die Menschenseele betet, liebt, glaubt, träumt, bildet ... „Aus irgendeiner banal verständlichen Sorte von „Verdrängung“, „Kompensation“, „Überkompensation“, „Sublimierung“, „Ausgleichsbedürfnis“, „Notstandsreaktion“. -

Wo immer das eigentliche Wunder des Lebens und seine Erfahrung mangeln (unter „Erfahrung des Lebens“ verstehe ich freilich nicht das, was vielbeschäftigte Rechtsanwälte und Nervenärzte ihre „Lebenserfahrung“

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/64&oldid=- (Version vom 5.7.2016)