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und Naturwissenschaften bilden seit der Gründung der Pariser école polytechnique, an deren Plan sich in Deutschland die ersten Schritte der Entwicklung über die Handwerkschule hinaus angeschlossen hatten, den allgemein anerkannten Grundstock technischer Bildung, und solange die theoretischen Wissenschaften in der Durcharbeitung unserer Erfahrungen und in der Anwendung ihrer Lehren auf technische Probleme ihr Genüge finden, sind sie jedenfalls unumgängliche Vorbedingungen wissenschaftlicher Technik. Aber je mehr während des vorigen Jahrhunderts sich die Mathematik der Kritik ihrer Grundlagen zu- und den Anwendungen abwandte, je mehr auch einzelne Mathematiker der technischen Hochschulen ihre Wissenschaft in diesem Sinne vorzutragen versuchten, um so mehr regte sich der Widerspruch technischer Eigenart, die neue Ansprüche auf die bemessene Studiendauer für dringlicher hielt. Der Forderung, jede Wissenschaft, die akademisch betrieben wird, muß um ihrer selbst willen betrieben werden, stellte sich die Forderung gegenüber, daß im Hochschulstudium nach Ablegung der Reifeprüfung alle Studien nur, soweit sie dem fachlichen Ziele zuführen, Berechtigung haben. Sind Mathematik und Naturwissenschaften Grundwissenschaften oder Hilfswissenschaften? lauteten die Stichworte der Parteien. Dem Muster französischen technischen Unterrichts wurde die englische Ausbildung gegenübergestellt, die am längsten an der in Handwerk und Kunst geübten Überlieferung durch den Meister festgehalten hat.

Die radikalste Forderung, Mathematik und Naturwissenschaften gänzlich den Mittelschulen zuzuschieben und auf der Hochschule das etwa weiter Erforderliche nicht als selbstständiges Wissen, sondern nur insoweit es im fachlichen Zusammenhange benötigt wird zu bieten, hat sich nur hinsichtlich der Mathematikprüfungen in den bei den Abteilungen durchführen lassen, die schon bisher geringe Anforderungen an die mathematische Ausbildung stellten, die chemische und teilweise die Hochbauabteilung. Aber zu einer heilsamen Nachprüfung des an der Hochschule vorgetragenen theoretischen Wissens auf seine Brauchbarkeit und seinen Bildungswert für das technische Studium, zu einer Ausscheidung des Entbehrlichen, einer Konzentration auf das technisch Wichtige hat allerdings die Entwicklung hingeführt, die an allen Hochschulen in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts sich allmählich beruhigte. Indessen ist wohl vielfach in Weitblickenden der Wunsch rege geblieben, daß es gelingen möge, die Vorbildung der deutschen akademischen Jugend so zu gestalten, daß sie eher zu den fachlichen Studien gelangt als jetzt, sei es, daß man die gymnasiale Bildungsstufe eher beendet, sei es, daß man die realistischen Fächer in ihr verstärkt auf Kosten der sprachlichen.

Verwendung von Technikern in höheren Verwaltungsstellen.

Zugleich mit der Beschwichtigung dieser Fragen erhob sich eine neue Forderung, die zu lebhaften Auseinandersetzungen führte. Wurde früher der wissenschaftlich gebildete Techniker vorwiegend im Zeichenbureau und im Laboratorium beschäftigt, so waren ihm inzwischen im öffentlichen Dienste wie in Privatstellungen in wachsendem Maße Verwaltungsgeschäfte zugefallen, und kaufmännische Erwägungen entschieden oft mehr als konstruktive Vorteile über den Erfolg technischer Ideen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1067. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/630&oldid=- (Version vom 9.3.2019)