Friedrich Blass (Übersetzer): Die Sibyllinen | |
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Das ganze klassische Altertum, das griechische wie das römische und das griechisch-römische der Kaiserzeit, ist von Weissagungen und Orakeln voll; immerdar hat man gestrebt, in die Zukunft hineinzuschauen und sich, wo der menschliche Verstand nicht zulangte, göttlichen oder gottbegeisterten Beirat zu verschaffen. Das gilt von den Einzelnen und gilt von den Staaten ebenso und von dem größten Staate, dem römischen, am Meisten. Es hat auch zu keiner Zeit an Leuten und an Instituten gefehlt, die diesem Bedürfnis entgegenkamen, und zwar in der allermannigfaltigsten Weise. Die stoischen Philosophen, welche der Weissagung (divinatio) in ihrem System einen breiten Raum gaben und sich die Verteidigung derselben sehr angelegen sein ließen, unterschieden zwei Hauptarten, eine künstliche und eine kunstlose oder natürliche divinatio. Jene umfaßte die Disciplinen der Eingeweideschau, der Vogelschau, der Astrologie u. s. w.; in dieser scheiden sich das Hellsehen und der Traum, dessen Deutung indessen ebenfalls der Kunst unterliegt. Hellseher aber hatte man nicht nach Belieben zur Verfügung, namentlich nachdem die alten Orakelstätten, wie Delphi, wo Apollon durch den Mund eines Weibes weissagte, in Verfall und Mißachtung gekommen waren; zum Ersatz also dienten die schriftlich aufgezeichneten Sprüche von Hellsehern der Vorzeit, von denen die Sibylla, früher ein einheitliches Wesen, später in viele Personen geteilt, von sehr früher Zeit ab hervorgeragt und nachmals sogar alle andern unterdrückt hat.
Der Name Sibylla ist von dunkler Bedeutung und nicht einmal von fester Schreibung, insofern Sibilla (als Frauenname) sich auf einer attischen Inschrift des 4. Jahrh. v. Chr. findet. Die Prophetin aber war bereits der attischen und sogar der vorattischen Zeit bekannt; denn aus dem Philosophen Heraklit von Ephesos, der etwa unter Darius Hystaspes’ Sohn blühte, wird folgende Stelle citiert: „Sibylla, indem sie mit rasendem Mund unerheiterte und ungezierte und ungesalbte Worte redet, reicht auf tausend Jahre weit durch die Kraft des Gottes.“ Also in uralten Zeiten sollte Sibylla gelebt haben, ihre aufgezeichneten Sprüche aber erfüllten sich in der Gegenwart oder sollten sich erst in der Zukunft erfüllen. Fragt man aber, woher die Meinung kam, daß sie einer so entfernten Vorzeit angehöre, so wird die Antwort schwerlich fehlgehen, daß Weissagungen über sehr alte Geschichten schon damals unter ihren Sprüchen waren, insonderheit solche über den trojanischen Krieg, wie sie auch in den
Friedrich Blass (Übersetzer): Die Sibyllinen. Tübingen: Mohr Siebeck, 1900, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DieSibyllinenGermanBlassKautzsch2.djvu/01&oldid=- (Version vom 31.7.2018)