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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


An Gästen hat es von jetzt an im goethe’schen Hause nicht gefehlt. Die aufsteigende Ruhmessonne des Sohnes lockte von nah und fern seine Jugendgenossen an, ebenso wildfremde Wallfahrer zum Born des Genius, mitunter auch schmarotzendes Geziefer, das sich ja der Sonne ebenfalls freuen will. Von Jugendgenossen schwirrten zu und ab Leopold Wagner, ein Kraftgenie, das bald ausgekraftgeniet hatte, und Maximilian Klinger, dessen der ganzen Epoche ihren Namen gebendes Schauspiel „Sturm und Drang“ 1775 erschien. Die harte Lehrerin Noth hat ihn nachmals in ihre herbe Schule genommen und ihn zu einem Manne gemacht, der ohne Frage zu den bedeutendsten Charakteren seiner Zeit gehörte; schon darum, weil er unter der Uniform eines russischen Generals eine Menschenwürde und einen Stoicismus bewahrte, welche eines Republikaners der besten Zeit Roms würdig waren. Humorist Krespel hatte derweil ein neues Spiel angegeben, das Mariagespiel, allwobei je ein Männlein mit je einem Weiblein der Goethe-Gesellschaft auf Zeit zusammengegeben wurde, – in aller Unschuld und in allem Anstand, versteht sich. Diese Scherz-Ehen förderten die Munterkeit und den Zusammenhalt des Kreises nicht wenig. Zweimal war in dieser Ehestandslotterie das große Loos dem Wolfgang zugefallen, nämlich die hübsche, aufgeweckte, sechszehnjährige Anna Sibylla Münch, eines angesehenen Kaufmanns Tochter und in jedem Betracht eine „gute Partie“, so daß Herr Johann Kaspar und Frau Katharina Elisabeth es gar nicht ungern gesehen hätten, wenn der Herr Sohn aus dem Scherz einen Ernst gemacht haben würde. Aber der Herr Sohn, in welchem es dazumalen sehr heftig wertherte, ja, und auch faustete – wir werden bald mehr davon hören – hatte zum heiraten entschieden kein Talent. Seiner hübschen Scheinfrau Anna Sibylla that er indessen manches zu Liebe, unter anderem auch das Trauerspiel „Clavigo“, welches er, falls kein Gedächtnißfehler mitunterläuft, seiner eigenen Versicherung zufolge ihr zu gefallen binnen acht Tagen verfaßte. Es ist eine artige Geschichte. Caron de Beaumarchais, welcher zehn Jahre später (April 1784) seine vorweg losgelassene, mit Höllenfeuerkomik geladene Revolutionsbombe „Le mariage de Figaro“ auf die Bühne des Theatre Français schleuderte, war im Februar von 1774 das Opfer jener schnöden Rechtsbeugung geworden, welche die in Feuer getauchte Feder des Opfers aus einer Privatsache zur „cause de la nation“, ja zu einer europäischen Angelegenheit zu machen wußte. In allen gebildeten Kreisen sprach man von Beaumarchais und er verdiente diese Aufmerksamkeit als eine der abenteuerlichsten Charakterfiguren, welche über die Vorspielsbühne der französischen Revolutionstragödie gegangen sind.

Eines Tages hatte unser Wolfgang den Freunden und Freundinnen das vierte „Mémoire“ des quecksilbernen Parisers vorgelesen, worin dessen Reise nach Madrid und seine dortigen Verwickelungen mit dem Don Clavijo y Flaxardo erzählt sind. Nachdem man darüber hin- und hergesprochen, sagte Anna Sibylla zu ihrem angeloosten Ehegemahl:

„Wäre ich Deine Gebieterin und nicht blos Deine Frau, so würde ich Dich beauftragen, dieses Mémoire zu einem Schauspiele zu verarbeiten, wozu es mir ganz geeignet erscheint.“

Unser galanter Dichter alsogleich:

„Damit Du, meine Liebe, siehst, daß Gebieterin und Frau auch in einer Person vereinigt sein können, so verspreche ich Dir, heute über acht Tage das gewünschte Stück unserer Gesellschaft vorzulesen.“

Ob dieses Versprechen wörtlich erfüllt worden, wissen wir nicht; wohl aber, daß im Mai 1774 das Trauerspiel „Clavigo“ – denn Goethe hatte es angezeigt gefunden, der dramatischen Verwickelung eine tragische Wendung zu geben – in raschem Zuge niedergeschrieben wurde, so daß am 1. Juni der Dichter die Beendigung seiner Arbeit brieflich einem Freunde melden konnte. Ein anderes in Prosa geschriebenes Trauerspiel, „Stella“, dürfte wenigstens in seinen Anfängen ebenfalls in diese Zeit zu setzen sein, welche aller Herzensunruhen, Zerstreuungen und Wanderungen unseres Wolfgang’s ungeachtet eine Zeit vielseitigsten Empfangens und regsten Schaffens gewesen ist. Er schrieb damals das heitere Singspiel „Erwin und Elmire“ voll leichthinfließender Melodie, er versuchte sich im Balladentone („Der König von Thule“ – „Der untreue Knabe“), er stiftete mit tiefempfundener Pietät und den guten alten Knittelreim schön wiederum zu dichterischen Ehren bringend und literaturfähig machend dem trefflichen Meistersänger von Nürnberg ein unvergänglich Denkmal („Hanns Sachsens poetische Sendung“). Wenn Freund Merck den „Clavigo“ und die „Stella“ wirklich als „Quark“ bezeichnet hat, wie ihm Goethe nachsagt, so that er hinsichtlich des erstgenannten Drama’s entschieden unrecht. Der Clavigo ist sicherlich eines der bühnengerechtesten und wirksamsten deutschen Stücke und die Figur des Carlos einer der lebenswahrsten, in sich geschlossensten Charaktere, die jemals von einem deutschen Dramatiker geschaffen wurden. Zugleich mag man in diesem Charakter eine psychologisch-biographische Merkwürdigkeit erblicken, insofern derselbe deutlich darthut, daß in seinem Schöpfer doch schon zu dieser Zeit, inmitten von all dem Sturm und Drang, jener Weltverstand sich zu entwickeln begonnen hatte, welcher aus den Werken Goethe’s jeden Kenner und jede Kennerin von Welt und Menschen so sympathisch anspricht. Im Uebrigen hat der Dichter den Clavigo für eine Ergänzung der im Götz abgelegten Beichte seiner an Friederike Brion begangenen Sünde erklärt. Die „Stella“ geben wir preis. Es zucken darin wohl einzelne blendend prächtige Blitze der Leidenschaft auf, deren Naturwahrheit beweist, daß wir es auch hier mit einem Stücke goethe’scher Confession zu thun haben; aber das Ganze ist doch nur ein künstlich überwürztes Residuum der Wertherei und hat einen – einen – wie soll ich sagen? nun ja, einen mormonischen Beigeschmack.

Die schöpferische Hauptsorge unseres wachsenden Titans war jedoch zu dieser Zeit viel großartigeren Problemen zugekehrt, während er untergeordnetere so zu sagen spielend bewältigte und abthat. Den tragischen Stoff „Cäsar“, welcher, wie wir sahen, zu Straßburg ihm nahegetreten, ließ er fallen und hat auch denselben nie wieder aufgenommen; auch dann nicht, als ihm am 2. October 1808 Napoleon zu Erfurt sagte:

„Sie, Monsieur Goethe, sollten den Tod Cäsars auf eine vollwürdige Weise und großartiger als Voltaire schreiben. Das könnte die schönste Aufgabe Ihres Lebens werden. Die Tragödie müßte die Schule der Könige und der Völker sein; das ist das Höchste, was der Dichter erreichen kann.“

Goethe hatte aber schon um 1773–1774 zwar nicht klar erkannt, aber doch mit genialem Instinct herausgefühlt, was die „schönste Aufgabe“ seines Lebens sei – die Faust-Dichtung. Freilich hatte dieses Unternehmen dazumal noch für eine Weile die Concurrenz anderweitiger hochbedeutsamer Entwürfe zu bestehen. Denn es drängten sich gestaltungheischend zugleich auch der „Mohammed“, der „Prometheus“ und der „Ewige Jude“ an unseren Dichter heran – auch drei gewaltige Kerle, fürwahr.

Mit dem großen arabischen Propheten hat sich der Wolfgang am meisten eingelassen. Nur eine einzige Probe seiner dichterischen Beschäftigung mit diesem Stoffe gelangte zur Aufnahme in seine Werke: – „Mohammeds Gesang“ (unter die „Hymnen“ eingereiht), in welchem Monolog, wie mir scheint, der Stifter des Islam das Werden und Wachsen seines weltgeschichtlichen Werkes natursymbolisch weissagt. Weiter gediehen ist der goethe’sche „Prometheus“, auch in seiner fragmentarischen Gestalt verständlich genug als das weitaus kühnste Manifest, welches der Titanismus deutscher Sturm- und Drangzeit, das sich selbst erfassende menschliche Bewußtsein in seinem souveränsten Trotze rebellisch gen Himmel geschleudert hat. Der Protest gegen die Ueberlieferung spitzt sich zu ihrer schneidigsten Schärfe zu in dem Schlußmonolog des Gott-Titan, wie ihn Sophokles nennt, des „Feuerbringers“ Prometheus, und nicht allein an die Adresse des hellenischen Zeus ist das Trotzwort gerichtet:

„Ich Dich ehren? Wofür?
Hast Du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast Du die Thränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren – und deine?
Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei.
Zu leiden, zu weinen.
Zu genießen und zu freuen sich
Und Dein nicht zu achten
Wie ich!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_421.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)