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Leben. Es beweist sehr hübsch, wie treu und frisch der Mann, welcher der kühnste aller Abstractoren, der sicherste aller speculativen Wolkenwandler gewesen ist, das wirkliche Leben aufzufassen verstand.

Aber die Reise nach Warschau erwies sich als ein Fehlgang, sowie Fichte in den Palast des Grafen v. P. getreten war und diesem Herrn und Madame sich vorgestellt hatte. Der gegenseitige Eindruck war ein „unvortheilhafter“. Der ernste, gediegene, wohl auch etwas deutschviereckige Fichte und die französisch lackirte polnische Frivolität, wie paßte das zusammen? Gar nicht. Für den polnischen Adel war damals und ist noch jetzt der nächste beste französische Windbeutel der beste, d. h. der wahlverwandteste und willkommenste Pädagog. Das Verhältniß löste sich also, noch bevor es wirklich begonnen hatte, und Fichte pilgerte von Warschau nach Königsberg, weil es ihn drängte, Kant’s persönliche Bekanntschaft zu machen. In Königsberg angelangt, setzte er sich hin, um sich selber einen Empfehlungsbrief an den berühmten Mann zu schreiben, nämlich eine „Kritik aller Offenbarungen“, eine Arbeit, mit deren Veröffentlichung Fichte in der philosophischen Welt debütirte. Kant nahm diesen Empfehlungsbrief und dessen Schreiber „mit ausgezeichneter Güte“ auf, und auch außerdem gewann er sich in Königsberg warme Freunde, deren Empfehlung ihm eine Erzieherstelle im Hause des in der Nähe von Danzig begüterten Grafen von Krokow verschaffte. Also abermals Hauslehrer! Aber diesmal war er es wenigstens unter anständigen Bedingungen und in einer Familie, welche seinen Werth zu schätzen wußte.

Unterdessen wurde der „Versuch einer Kritik aller Offenbarungen“ bei Hartung in Königsberg gedruckt, und die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise, welche damals durch die Kantische Philosophie so hoch bewegt waren, lenkte sich rasch auf das zuerst anonym erschienene Buch. Man hielt Kant selbst für den Verfasser desselben, bis der große Philosoph durch eine Erklärung in der Allg. Literatur-Zeitung Fichte als Autor nannte und diesen damit so zu sagen dem gelehrten Publicum vorstellte. Es begannen hiermit für Fichte die vielen Leiden und wenigen Freuden deutscher Autorschaft und litterarischer Berühmtheit. Auch das orthodoxe Halloh der Ketzerriecher begann sofort, wie das ganz folgerichtig immer geschieht, so oft ein Stück Wahrheit in die Welt tritt.

Im Sommer von 1793 finden wir unsern jetzt schon ehrenvoll genannten Philosophen abermals in Zürich, wo die Verhältnisse im väterlichen Hause seiner Braut sich wieder so leidlich günstig gestaltet hatten, daß Hochzeit gemacht werden konnte. Sie wurde den 22. October in Baden bei Zürich wirklich gefeiert, und Lavater gab den Neuvermählten auf ihren Flitterwochenausflug in die welsche Schweiz den Denkspruch mit:

„Kraft und Demuth vereint wirkt nie vergängliche Freuden,
Lieb’ im Bunde mit Licht erzeugt unsterbliche Kinder.“

Auf dieser Fahrt machte Fichte die Bekanntschaft und gewann die Freundschaft von Baggesen und Fernow, und er führte, nach Zürich zurückgekehrt, die Beiden den See hinauf nach Richterswyl zu Pestalozzi. Der treffliche Verfasser des unübertroffenen Volksbuchs von Lienhard und Gertrud, der große Reformator der Volkserziehung, meines Erachtens neben Ulrich Zwingli der beste und größte Mann, welchen die Schweiz hervorgebracht hat, war damals, wenig oder gar nicht beachtet, mit Vorübungen auf das große Werk seines Lebens beschäftigt, – nach einer brieflichen Aeußerung Fernow’s „ein Mann zwischen 40 und 50, häßlich und blatternarbig von Gesicht, simpel in seiner Kleidung und seinem Aeußeren wie ein Landmann, aber so voll Gefühl, wie ich wenig Menschen kenne, und dabei voll trefflicher praktischer Philosophie.“

Zunächst in glücklicher Muße im Hause seines Schwiegervaters lebend, brachte Fichte, auf der Grundlage der Kantischen Philosophie weiterbauend, den Um- und Aufriß seines philosophischen Systems, wie sich dasselbe in der „Wissenschaftslehre“ (1794) zuerst darstellte, in sich mehr und mehr zur Klarheit und Reife. Auch trug er auf die Bitte Lavater’s und mehrerer Freunde denselben einen vollständigen Cursus der Lehre Kant’s vor. Wie bedeutend Fichte als philosophischer Lehrer schon damals auf seine Zuhörer wirkte, bezeugen verschiedene enthusiastisch-dankbare schriftliche Aeußerungen Lavater’s, der freilich, nebenbei gesagt, kaum im Stande war, den eigentlichen Kern von Fichte’s Speculation zu erfassen. Neben diesen Arbeiten betheiligte sich unser Philosoph, dessen ganzes Wesen ja auf die That, auf das Handeln, auf die Bethätigung menschlicher Kraft im Staatsleben gestellt war, unmittelbar an dem großen Kampfe der Zeit, indem er, unbeirrt durch das wüthende Gekläff der reactionären Meute über die Ausschreitungen der französischen Staatsumwälzung, seine „Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution“ schrieb, sowie seine „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten.“ Fichte gehört mit Georg Forster bekanntlich zu den wenigen, sehr wenigen deutschen Gelehrten und Literaten, welche die Nothwendigkeit der Revolution und ihren Entwicklungsgang wirklich begriffen, während z. B. ein Goethe über eine mehr als naive Anschauung dieser weltgeschichtlichen Tragödie niemals hinauskam. Natürlich gelangte Fichte zu dem Ruf eines „Demokraten“, und wie nachtheilig dieser Ruf später vielfach auf sein äußeres Glück wirken mußte, kann man sich leicht denken, da ja auch heutzutage noch das Wort Demokrat allen politischen Fibelschützen oder, schweizerisch gesprochen, Häfelischülern graulich macht.

(Schluß folgt.)




Der Letzte seines Stammes.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung.)

Nur ein Mann weilte in ihrer Nähe, der es sah und wußte, was in ihr und mit ihr vorging. Einer lebte in ihrer Nähe, der ihr Leiden wie einen eigenen brennenden Schmerz empfand, und der den Mann verachtete, welcher das Unglück Veronika’s geworden war. Ulrich’s Liebe wachte über ihr und wachte über sich selbst so streng, daß nicht sein Onkel, nicht der Späherblick Franziska’s, die den Schatten eines Verdachtes mit Freuden benutzt haben würde, dem Grafen einen Zweifel gegen die tadellose Reinheit seines Weibes einzuflößen, es ahnten, was in Ulrich’s Herzen vorging.

Mit der Sorge eines Bruders, mit dem Scharfsinn der Leidenschaft, die nur stärker und tiefer geworden war, je fester er sie in sich verschlossen, war er dem ränkevollen Treiben der Marquise seit der Ankunft seines Onkels in Paris gefolgt. Vorsichtig, wie es dem jüngern Manne gegen den ältern, dem Neffen gegen den Onkel zustand, hatte er denselben daran zu erinnern gewagt, wer und was Franziska sei, und welches Spiel sie mit ihm getrieben von Anfang an. Indeß der Graf hatte nicht darauf geachtet. Kleine, aber peinliche Erörterungen waren die Folge solcher Gespräche gewesen, und Ulrich hatte es nicht bis zu einem Aeußersten kommen lassen mögen, um nicht aus der Nähe Veronika’s verwiesen zu werden, und um ihr nicht zu fehlen, falls einmal die Stunde kommen sollte, in welcher sie seiner bedurfte.

Er war viel in dem Hause seines Onkels, denn er war unbeschäftigt in Paris, und er sah Veronika häufig allein, die er als seine Tante zu betrachten nicht erlernen konnte. Aber wie oft er auch ihre stillen Seufzer hörte, wie oft er sie einsam und in Thränen fand, und wie oft er Zeuge davon wurde, wenn sein Onkel an der Seite der Marquise auswärts und strahlend in Heiterkeit erschien, niemals ward ein Wort der Klage von Veronika gegen ihn geäußert, niemals hatte er sie gefragt: was fehlt Dir, Veronika? und wie könnte ich Dir helfen? – Die strenge Selbstbeherrschung, zu welcher die Freifrau und der Vater Veronika’s die Beiden gewöhnt, hielt sie in ihren Banden, und obschon wohl nie ein großer Kummer verschwiegener getragen wurde, als Veronika und Ulrich ihre Schmerzen trugen, so wußte doch Jeder von ihnen, was der Andere litt, und Jeder von ihnen hatte seinen Trost an der unausgesprochenen Theilnahme des Anderen.

Nur des Grafen Schicksal, nur das Allgemeine, so weit es ihn betreffen konnte, lag Veronika am Herzen, und Fragen um die Vorgänge in dem Lande, in der Stadt, in der Nationalversammlung

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