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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

dieser Theater im Durchschnitt allabendlich drei Stücke aufführt und die Neugierde des Publicums schnell übersättigt wird, so ist es gar nicht auffallend, daß die Pariser Schaubühnen jährlich weit mehr als hundert Stücke verbrauchen, besonders wenn man erwägt, daß von diesen gar viele mehr oder minder Fiasco machen. Eine große Anzahl dieser Bühnenerzeugnisse gehört zu den Gelegenheitsstücken, pièces d’actualité oder pièces de circonstance, Stücke, die sich auf gewisse Zustände der Gegenwart beziehen, oder ein bedeutendes Tagesereignis;, einen merkwürdigen Vorfall behandeln. Ihr Erfolg hängt natürlich von der Geschwindigkeit ab, mit welcher sie dem Ereignis;, dem Vorfalle folgen; denn in Paris veraltet Alles sehr schnell und nirgendwo ist die Gegenwart so kurzlebig wie hier. Auch ist die Neugierde der Franzosen weniger hungrig als genäschig. Um sie zu befriedigen, darf man nicht viel, muß man vielerlei bringen.

Sprechen wir nun von der Art und Weise, wie ein solches von mehren Vätern in die Welt gesetztes Stück zu entstehen pflegt.

Da ist z. B. ein junger Mann, der kaum das College verlassen und sich zum dramatischen Dichter heranbilden will. Er hat eine frische, lebendige Einbildungskraft; er besitzt viel Erfindungsgabe und es fehlt ihm auch nicht an poetischem Gefühl. Dies Alles hat er benutzt, um ein Stück zu schreiben, das sehr reich an gelungenen Stellen ist, das sich aber entweder zur Aufführung gar nicht eignet, oder bei der ersten Aufführung jämmerlich durchfallen würde und zwar deshalb, weil der Dialog bald zu schleppend, bald zu abgebrochen, weil die Scenen nicht schnell auf einander folgen und auch nicht wirkungsreich genug sind, kurz weil der junge Autor die Ansprüche des Publicums nicht genau kennt. Er wendet sich an einen bühnengewandten Schriftsteller, und dieser stutzt nun das dramatische Kind, das so unbeholfen aussieht, mit großer Geschicklichkeit für die Bretter zu. Er frisirt es, er parfümirt es, er zieht ihm effectmachende Kleider an und legt ihm mehre Dutzend Schlagwörter in den Mund. Das Kind hat auf diese Weise zwei Väter bekommen, die auf dem Theaterzettel genannt werden und sich in die Tantième theilen. Beide fahren nun fort, mit einander zu arbeiten. Der junge Poet erfindet die Handlung, während der Andere sie in Scene setzt. Oft wird noch ein Dritter nöthig. In den Vaudevilles nämlich genügen die Handlung und der Dialog allein durchaus nicht; es müssen noch die Couplets angebracht werden, jene kurzen, epigrammatisch zugespitzten Lieder, welche die einzelnen Scenen einleiten und schließen und gleichsam die gereimten Knalleffecte des Stückes bilden. Der Dritte nun, der diese Knalleffecte liefert, wird natürlich ebenfalls als Vater auf dem Zettel genannt und bekommt für sein Drittel Vaterschaft den dritten Theil der Lorbeeren, oder, was noch wichtiger ist, den dritten Theil der Tantième.

Es giebt in Paris viele dramatische Schriftsteller, die niemals ein ganzes Stück, sondern immer nur einen Bruchtheil eines solchen geschaffen; ja, mancher Meister seines Faches, der schon unzählige Stücke geschrieben, bedient sich der Mitarbeiter, blos um schneller fertig zu werden. Wie ein Schneidermeister hat er seine Gesellen. Er schneidet das Stück zu, während diese es zusammenstutzen, aufputzen und mit Schnörkeln versehen.

Der Vater dieses Collaborationssystems war Eugène Scribe. Er, der nicht weniger Stücke auf die Bühne gebracht als das Jahr Tage zählt, dem seine leicht geschürzte dramatische Muse ein Vermögen von mehreren Millionen erworben und der in manchen Jahren zweimal hunderttausend Franken an Tantièmen eingenommen; er, der glücklichste, reichste und fruchtbarste aller Vaudevillendichter, hat sein erstes Stück gemeinschaftlich mit seinem Freunde Germain Delavigne geschrieben. Dieses erste Stück hieß „Le Dervis“ und ging im September 1811 über die Bretter. Zu vielen seiner andern Stücke machte ihm Casimir Delavigue die Couplets, und als er, Eugène Scribe nämlich, der Liebling des Publicums wurde, etablirte er eine Vaudevillefabrik und beschäftigte stets mehrere Dutzend Mitarbeiter. Die Einen brachten ihm Pläne zu Stücken, die er ausarbeitete; Andere hatten ausgearbeitete Stücke, welche er umgestaltete, um sie effectreicher zu machen; wiederum Andere brachten ihm mehrere Dutzend Couplets, mit denen er einige neue Machwerke spickte, und dann gab es auch Einige, die ihm pikante Anekdoten und Schlagwörter lieferten. Auf diese Weise waren die Maschinen in genannter dramatischen Kunstwaarenfabrik in Bewegung.

Scribe’s Erfolg verlockte später sogar wahrhaft poetische Talente diesem Fabrikationssystem zu huldigen. So hat Emile Augier in Gemeinschaft mit Jules Sandeau „Le gendre de Monsieur Poirier“ und mit Foussier „Les Lionnes pauvres“ geschrieben. Alexander Dumas Sohn hat seine dramatische Laufbahn ebenfalls mit einem Associé begonnen. Sein erstes Stück, „La Dame aux Camélias“, das sich eines so großen Erfolges erfreute, hat der Mitarbeiterschaft Antony Béraud’s sein Entstehen zu verdanken. Dieser wird zwar niemals auf dem Zettel genannt; er theilt jedoch mit Dumas Sohn die Tantième. Der jüngere Dumas hat sich übrigens gleich nach der Aufführung des genannten Stückes vorgenommen, künftig auf eigene Faust zu arbeiten, und ist bisher seinem Vorsätze treu geblieben.

Das System der Mitarbeiterschaft gereicht unstreitig der dramatischen Literatur Frankreichs zum Verderben. Von wahren Kunstwerken kann da niemals die Rede sein. Wo die innere poetische Nöthigung fehlt, ist keine Kunstschöpfung möglich. Den Pariser Autoren, welche die Pariser Theater mit Dramen und Vaudevilles überschwemmen, ist die Muse keine Göttin, deren Gunst man inbrünstig erfleht, sondern eine Magd, die man für allerlei Dienste gebraucht. Sie sind nicht der Ansicht unsers Klopstock, daß Unsterblichkeit ein schöner Gedanke sei; sie wollen Geld verdienen und scheeren sich wenig um die Unsterblichkeit. Daher kommt es dann, daß von den vielen tausend Stücken, die seit einem Menschenalter über die Pariser Bühnen gegangen, vielleicht kein einziges das letzte Decennium dieses Jahrhunderts erleben wird.

Die Operntextfabrikation wird noch mechanischer betrieben. Hier gilt es vor Allem, Romane oder dramatische Werke aufzutreiben, die ein Gemeingut des Publicums geworden, deren Autoren nämlich längst gestorben, oder, wenn sie noch leben, kein Autorenrecht beanspruchen können. Die Textmachermeister begeben sich an die Arbeit. Der Eine schneidert die Handlung zu, der Andere schmiedet die Verse nach den Bedürfnissen des Componisten, und wenn die Oper zur Aufführung kommt, theilt das Kleeblatt den Gewinn. Es versteht sich von selbst, das; besonders die Meister aller Literatur stark herhalten müssen. Seit einem Jahre sind in Paris vier Opern zur Aufführung gelangt, zu denen die Textbücher englischen und deutschen Werken entnommen sind. Schiller’s Don Carlos, von Méry und De Locle bearbeitet und von Verdi in Musik gesetzt; Mignon, nach Wilhelm Meister von Barbier und Carré ziemlich geschickt verarbeitet und von Ambroise Thomas componirt; Romeo und Julie, ebenfalls von Barbier und Carré in ein Textbuch zusammengestutzt und von Gounod componirt, und endlich „La jolie Fille de Perth“, nach dem bekannten Walter Scott’schen Roman von Adenis allein bearbeitet und von dem jungen Bizet mit Talent in Musik gesetzt. Shakespeare, Goethe und Schiller werden jetzt als sehr ergiebige Fundgruben von den Pariser Textschreibern ausgebeutet, und man braucht nicht erst zu bemerken, daß dieselben in den meisten Fällen mit diesen Texten mehr gewinnen, als die Originaldichter mit ihren Werken gewonnen haben.




Eine Sängerfahrt über den Ocean. Mögen die deutschen Sänger einstweilen ihre Bündel schnüren und den Muth zu einem kühnen Unternehmen in sich reifen lassen; es ist für sie Aussicht zu einer Fahrt vorhanden, zu einer so fröhlichen, wahrhaft poetischen und vielfach bedeutsamen Sängerfahrt, wie sie unser bisheriger deutscher Festkalender noch nicht aufzuweisen hat.

In der großen amerikanischen Stadt Chicago, wo bekanntlich sehr viele Deutsche wohnen, wird im Juli d. J. das sechszehnte Sängerfest des nordamerikanischen (deutschen) Sängerbundes begangen werden, und mit regstem Eifer trifft das dortige Central-Comité des genannten Bundes bereits alle Veranstaltungen zu einer der Bedeutung des Festes entsprechenden nöglichst großartigen und fröhlichen Feier. Wer Amerika irgend kennt, der weiß auch, wie imposant und begeisterungsvoll dort solche Kundgebungen in’s Werk gesetzt werden. Alle amerikanischen Gesangvereine haben ihre zahlreiche Betheiligung zugesagt, und selbst die deutschen Sänger des fernen Californien werden die Wanderung durch endlose Prairien und über schneebedeckte Felsengebirge nicht scheuen, um bei dem großen Bruderfeste zu erscheinen. Jemehr aber dieses Fest von unseren Landsleuten in Amerika als „ein Hohes Weiheopfer“ betrachtet wird, „das dem deutschen Geiste in fremdem Lande gebracht werden soll“, um so weniger können sie sich mit dem Gedanken befreunden, dabei ein wichtiges Element nicht vertreten zu sehen: die deutschen Sangesbrüder aus der geliebten alten Heimath. Im Auftrage des Centralcomites in Chicago hat daher der correspondirende Secrctär desselben, Emil Dietzsch, am 5. Januar eine ernstgemeinte, durch ihre Herzlichkeit fast ergreifende Bitte um Betheiligung, resp. um Absendung von Vertretern an die deutschen Gesangvereine, zunächst an die in Hamburg, Bremen und Köln gerichtet. Wie sehr es dem Comité Ernst mit dieser Einladung ist, zeigen die bereits von ihm mit den Dampfschiffgesellschaften eingeleiteten Unterhandlungen, um für diejenigen Sänger, welche aus Deutschland hinübergehen wollen, die Kosten der Reise auf ein Geringes herabzusetzen.

Geld und Zeit werden freilich, trotz Allem, dazu nöthig sein; aber es giebt sicher in unseren Gesangvereinen eine nicht geringe Zahl von unabhängigen Männern, welche ohne Hinderniß diesem freundlichen Rufe folgen können. Die Einladung erinnert daran, daß sich ja deutsche Amerikaner in Menge zu dem nationalen Schützenfeste in Bremen eingefunden haben, daß ja deutsche Sänger nach London, ja, nach Lille gegangen sind. „Darum auf, ihr Sänger,“ so lautet die Aufforderung, „zaget nicht, entrollt euere Fahnen und ziehet gen Westen! Mit offenen Armen und alter deutscher Gastfreundschaft wollen wir euch empfangen und euch froh in’s hiesige deutsche Geistesleben einführen, auf daß ihr nachher zu Hause erzählen könnt: Auch über dem Ocean wohnen Männer, deren Herz noch schlägt für gute deutsche Sitte und das alte theure Vaterland"“




Sechshundert Berufsarten für Frauen. Daß es dringend nothwendig sei, den weiblichen Erwerb in neue Bahnen zu lenken, ihm eine über seine bisherigen Grenzen hinausgreifende Erweiterung zu geben, ist wohl jetzt von allen einsichtsvollen Menschen anerkannt. Leider aber befindet sich die für das Gesammtwohl so überaus wichtige Angelegenheit noch immer auf dem Punkte der Erörterung und Vorberathung? Unterdeß sind nach wie vor Millionen von Frauen und Mädchen der gebildeten und minder gebildeten Stände auf ihre, ja oft auf ihrer Familie gänzliche Erhaltung durch eigene Arbeit oder doch wenigstens auf eine lohnende Nebenbeschäftigung angewiesen, meistens ohne zu wissen, was sie, die herkömmlichen traurigen Berufsarten abgerechnet, ihren Fähigkeiten und Verhältnissen Angemessenes ergreifen könnten. Im Eifer der Debatten über die große Frage, in dem lobenswerthen Bestreben, eine umfassende Reform der weiblichen Thätigkeit für die Zukunft anzubahnen, hat man es bis jetzt dem gegenwärtig lebenden Geschlecht an praktischen Winken und Nachweisungen zur Verbesserung seiner Lage fehlen lassen. Hier aber ist guter Rath nothwendiger und segensreicher als auf irgend einem anderen Gebiete unseres Lebens, und solcher guter Rath scheint uns reichlich in einem Werke enthalten zu sein, das neuerdings unter dem Titel „die Frauen-Arbeit“ von dem Schriftsteller A. Daul in Altona (bei J. F. Hammerich daselbst) herausgegeben wird. Das von den Frauen-Vereinen und sonstigen Autoritäten bereits warm empfohlene Buch erscheint in monatlichen Lieferungen von sechs bis acht Bogen zu je sieben und einem halben Groschen und wird nach seiner Vollendung ein wahres Lexikon der Frauen-Arbeit sein, indem darin nicht weniger als sechshundert verschiedene Berufs- und Erwerbsarten für Frauen aufgezählt und ausführlich beschrieben werden. Es ist zu wünschen, daß ein so durchaus zeitgemäßes Unternehmen die verdiente Verbreitung in denjenigen Kreisen findet, denen es in der That die mannigfachste Anregung und Belehrung in Bezug auf eine oft sehr verhängnisvolle Lebens- und Familienfrage zu bieten vermag.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_159.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)