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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Propheten schenkt, so kann sie der Prophet, wenn er will, heirathen.“ Die reizende kleine Ayischa war in ihrer kindlichen Naivetät oft ganz außer sich über die Unersättlichkeit ihres Herrn und Gebieters. „Wie?“ rief sie einst bei der Entdeckung einer neuen schmählichen Untreue, „wie? Und Du nennst Dich einen Boten Gottes?“ Noch desselben Tages erhielt Mohamed eine neue Offenbarung. „O Prophet,“ sagte Allah, „versage Dir nicht Deinen Frauen zu Liebe, was Gott Dir erlaubt hat.“ Nun, Allah ist groß, der kleinen Ayischa aber schien das neueste Orakel doch etwas stark und sie hatte den Muth, dem Propheten in’s Gesicht zu sagen: „Dein Herr beeilt sich fürwahr, Deinen Gelüsten zu folgen.“ Und in der That, wem über solchen Visionen die Augen nicht aufgehen, der hat keine Augen. Wir sind hier hart an der Grenze, wo krankhafte Selbsttäuschungen in wissentlichen Betrug übergehen, und der Vorgang gemahnt an das berufene Goethesche Distichon:

Jeglichen Schwärmer schlagt mir an’s Kreuz im dreißigsten Jahre:
     Kennt er die Welt erst ganz, wird der Betrog’ne (der durch seine Sinne Getäuschte) zum Schelm. –

Wir haben an hervorragenden Beispielen den Hergang, die Bedeutung und Gefahr des visionären Zustandes uns zu vergegenwärtigen gesucht; im Uebrigen liegt es nicht in unserer Absicht, den geneigten Leser durch die zahllose Menge ähnlicher Geschichten zu ermüden. Denn Legion ist die Anzahl der Visionäre, vom König Saul ab, dem am Tage vor seinem Tode Samuels Geist erschien, von den Gesichten des Dion und Brutus an, die doch nach dem Urtheil Plutarch’s gesetzte Männer waren und sich so leicht von keinem Vorurtheil einnehmen ließen, bis auf Jung-Stilling, Justinus Kerner und die Gespensterseher unserer Tage hin. Hat doch selbst das vorige Jahrhundert, das Jahrhundert der Aufklärung, seinen Swedenborg gehabt, der noch auf dem Sterbebette sich rühmte, daß er mit St. Paulus ein ganzes Jahr, mit Johannes siebenmal, einmal mit Moses, hundertmal mit Luther und mit den Engeln fast täglich seit zweiundzwanzig Jahren conversirt habe. Und bezeugt doch der verstorbene Literaturhistoriker und Marburger Prof. Dr. Vilmar noch im Jahre 1857, daß er des Teufels Zähnefletschen aus der Tiefe gesehen, mit leiblichen Augen ganz unfigürlich gesehen, und sein Hohnlachen aus dem Abgrund gehört habe. Nur die Thatsache verdient noch Beachtung, daß Menschen von überwiegendem Phantasie- und Gefühlsleben, also neben den teufelsehenden Theologen vorzüglich Dichter und Weiber, zum visionären Zustand disponirt sind. Tasso verkehrte in seinen letzten Lebensjahren beständig mit einem Geiste und vergeblich suchte ihn sein Freund, der Ritter Manso, zu überreden, daß die Erscheinung nur eine Sinnestäuschung sei. Manso, vom Dichter aufgefordert, selbst einer solchen Zusammenkunft beizuwohnen, bemerkte, wie Tasso mitten in der Unterredung mit ihm auf einmal seinen Blick auf ein Fenster heftete: „Hier ist der freundschaftliche Geist,“ sagte er zu Manso, „der sich mit mir unterhalten will, gieb Acht und überzeuge Dich, daß Alles Wahrheit sei, was ich gesagt habe.“ Manso sah und hörte natürlich nichts, Tasso aber fing mit großem Ernst eine Unterhaltung an, fragte und antwortete, bis sich der Geist verabschiedete. Bekanntlich hatte auch Goethe, als er nach dem schmerzlichen Abschiede von Friederike auf dem Fußpfade gegen Drusenheim ritt, eine der sonderbarsten Visionen. „Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg zu Pferde wieder entgegenkommen und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traume aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg.“

Neben den Dichtern aber sind nun vollends die Weiber die Gespensterseherinnen von Profession. Jene heiligen Jungfrauen des Mittelalters, welche sich in Stunden seliger Entzückung bald mit dem Apostel Johannes, bald mit dem Christkinde selbst verlobten und von der Wirklichkeit dieses Vorgangs so überzeugt waren, daß sie, wie Katharina von Siena, zeitlebens den Verlobungsring an ihrem Finger funkeln sahen, den doch kein sterbliches Auge außer dem ihrigen erblickte, sie stehen, die Sache vom ärztlichen und nicht vom moralischen Standpunkte angesehen, genau auf derselben Stufe mit den armen unseligen Hexen, die mit Leib und Seele dem Fürsten der Finsterniß anzugehören meinten und deren Geständnisse viel häufiger aus der Angst eines gepeinigten Gewissens als aus den Qualen der Folter hervorgingen. Wer aber vermag die endlose Reihe dieser Schwärmerinnen zu zählen? In Trier allein verbrannte man deren 7000, in Genf innerhalb dreier Monate (des Jahres 1513) 500, in Bamberg 1500 etc. – Noch in unserer Zeit konnte die liebenswürdige Westphälin Annette von Droste-Hülshoff die Gespensterseherei mit der anmuthigsten poetischen Begabung verbinden. –

Alle Visionäre berufen sich zum Beweise für die Realität der Visionen auf die Erfahrungen der Sinne. Was meine Augen gesehen, sagen sie, meine Ohren gehört und meine Hände betastet haben, das werde ich doch als etwas Wirkliches und außer mir Vorhandenes anerkennen müssen. Diesem sehr voreiligen Schlusse gegenüber muß nun zunächst an die triviale und doch immer wieder vergessene Wahrheit erinnert werden, daß es überhaupt unrichtig ist, zu sagen: meine Augen haben gesehen, meine Ohren gehört etc. Vielmehr ist, was die Sinne uns zuführen, nur ein äußerst dürftiger Rohstoff, aus welchem allererst der Verstand das Bild der uns umgebenden Welt aufbaut. Träte etwa, indem wir die schönste Landschaft betrachten, plötzlich eine Art Gehirnlähmung ein, welche die Thätigkeit des Verstandes aufhöbe und nur die Sinneseindrücke ließe, so würde sich, was wir erblicken, in nichts von einer Palette mit vielerlei bunten Farbenklexen unterscheiden. Statt des erhabensten Musikstückes würden wir in dem nämlichen Falle nur ein verworrenes Geräusch vernehmen. Wollen wir uns also genau ausdrücken, so werden wir sagen: ich habe vermittelst des Auges gesehen, vermittelst des Ohres gehört. Was heißt das aber, worin besteht beispielsweise dieser Proceß des Sehens vermittelst des Auges? An der Hinterwand des Augapfels liegen die äußerst zarten Endfasern des Sehnerven; diese Schicht der Netzhaut wird, wenn durch den durchsichtigen Augapfel das Licht, das Helle, die Welt der Farben zu ihr dringt, in eine eigenthümliche Erregung gesetzt und diese Erregung wird durch den Sehnerven – noch hat die Wissenschaft nicht ergründet, wie? – in’s Gehirn fortgeleitet. Nun liegt jene für den Reiz des Lichtes empfängliche Nervenschicht in der knöchernen Augenhöhle und in der Tiefe des festen Augapfels so wohl geborgen, daß sie von der Außenwelt nicht leicht auf andere Weise afficirt wird, als eben durch das Licht, welches der durchsichtige Augapfel ungehindert einläßt. Theilt sich vermittelst des Sehnerven der auf die Netzhaut ausgeübte Reiz dem Gehirn mit, so ist dies für den Verstand das Anzeichen von Licht außerhalb des Auges. Und unzählige Erfahrungen von der Kindheit an lassen in uns in der Regel gar keinen Zweifel darüber aufkommen, daß der uns längst bekannten Wirkung die bekannte Ursache entspreche.

Indessen steht doch erfahrungsmäßig fest, daß sehr verschiedene Ursachen dieselbe Wirkung zur Folge haben können. Dieselbe Erregung des Sehnerven, zu der eigentlich nur das Licht berufen ist, kann zum Beispiel durch einen kräftigen Faustschlag auf’s Auge hervorgebracht werden. Daher die Redeweise der Kinder, wenn ihnen ein Ball in’s Auge geflogen oder sie einen Stoß in dasselbe bekommen haben, es sei ihnen Feuer herausgesprungen. Ein Druck mit dem Fingernagel gegen die Seite des Augapfels, der hineingeleitete elektrische Strom genügen, selbst im dunkelsten Raume entschiedene Lichtempfindungen hervorzurufen. Sogar in Fällen, wo durch Verletzung oder Operation das Auge ganz verloren ist, kann der Wundreiz am Nervenstumpf noch phantastische Lichterscheinungen erzeugen. Mithin ist der Schluß, daß der Erregung des Sehnerven jedesmal äußeres Licht entsprechen müsse, ein falscher; immerhin aber ist in den genannten Fällen die Lichtempfindung durch eine außerhalb des Körpers liegende Ursache bewirkt.


(Schluß folgt.)




Der angeblich letzte Schillianer (Nr. 14) hat uns zu Nachforschungen über die Verhältnisse desselben veranlaßt. Nach einer authentischen Mittheilung, die uns soeben zugeht, erscheint die ganze Nachricht über denselben als eine in der That sehr unfeine Schwindelei. Uns wurde dieselbe aus der „Königsberger Hartung’schen Zeitung“ mit der Bitte um Berücksichtigung des angeblich armen Veteranen zugesandt, und wir hatten bisher noch keine Veranlassung, in die Glaubwürdigkeit solcher Mittheilungen dieses Blattes Zweifel zu setzen. Daß wir gegen derartige „Nationalbitten“ bei jedem „Localmißgeschick“ unsere Mißbilligung ausgesprochen haben, wird auch in der Provinz Preußen die Zustimmung unserer Leser finden; daß aber gerade dort die Veranlassung dazu gegeben werden sollte, ist, wie sich nun herausstellt, weder ihre noch unsere Schuld.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_284.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)