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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Munde die Worte hören: „Da hättest Du auch etwas Besseres lesen können!“

In ähnlicher Weise sind bei mir mehr als einmal Erweise geistiger Selbstständigkeit verurtheilt worden, und ich verschloß daher meine Privatarbeiten ganz vor den Blicken der Lehrer. Eine gleiche Strenge waltete in dem Verbot des Theaterbesuchs; auch durfte kein Schüler nach neun Uhr Abends auf der Gasse sich blicken lassen, worüber ich einmal in Folge eines sehr harmlosen Besuches bei einem mir bekannten Theologen einen heftigen Verdruß erlitt. Später hat diese Schärfe sich an der Anstalt gemildert; damals aber war die Freiheit zu knapp gemessen, um die Schüler geistig so kräftig auswachsen zu lassen, wie ihr Talent sie befähigte.

Die Lehrer dieser Schule waren zum Theil katholische Weltgeistliche, welche die französische Herrschaft durchlebt und sich der preußischen vererbt hatten. Priester dieser Periode waren nicht bigott, und von pfäffischen Einflüssen bestand zu meiner Zeit keine Spur. So hatte selbst mein späterer Schwiegervater Mockel, der abwechselnd den beiden untern Classen vorstand, in seiner Vaterstadt Cöln die ersten Weihen empfangen; allein glücklich für ihn und mich war er der Stola noch entwichen und hatte es vorgezogen, meine schöne Schwiegermutter zu heirathen. Bei ihm habe ich leider nur noch das halbe Jahr als Quartaner in den Naturwissenschaften Unterricht gehabt; er ist mir einer der liebsten Lehrer gewesen. Seine über alle Maßen freundliche Natur und die treue Mühe, mit der er jeden Lehrstoff dem Schüler faßlich zu machen suchte, eignete ihn besonders zum Lehrer jüngerer Knaben. Seine Mineralogie schrieb ich sorgfältig nach und arbeitete sie zu Hause reinlich aus; ja ich rastete nicht, bis ich auch seine früheren Vorträge über Pflanzenkunde mir abgeschrieben hatte. Auch er hatte mich wegen dieses seltenen Eifers besonders lieb, obwohl sicher sein Herz nie daran dachte, daß der kleine Knabe noch sein Tochtermann werden sollte. Fünfzig volle Jahre hat dieser unermüdliche Greis seinem Vaterlande gedient, und noch in solchem Alter traf ihn jedes Frühroth bei der Vorbereitung auf seine Lehrstunden. Im Herbst 1849 hat er unter großem Zudrang dreier Schülergenerationen sein Jubelfest gefeiert – ach, und er mußte dabei den Schmerz haben, daß sein liebster Schüler, den er an Sohnesstatt in sein Haus eingepflanzt, auf Leben und Tod gefangen saß!

Ein anderer Lehrer, der sehr fördernd auf mich gewirkt hat, war ebenfalls Geistlicher und wurde von uns nach seiner hervorstechendsten Eigenschaft „der dicke Domine“ genannt. Er stammte vom Eichsfelde, und mir ist nicht bekannt, was ihn in die Rheinprovinz verschlagen hat. Das Wesen dieses Mannes hatte eine gewisse träge Feierlichkeit; diese legte er auch dann nicht ab, wenn er einem unfolgsamen Schüler mit dem Haselstecken Hiebe überzog, deren stets drei waren, nicht mehr, nicht weniger: wir hießen das „die drei Göttlichen“. Sein Antlitz war vollmondartig und stets von weißem Gewölk des Puders umzogen; aus ihm schauten zwei kluge Augen, und ein halb faunischer, halb spöttischer Mund gab ihm das Aussehen eines behaglichen Mönchs. Er huldigte der josephinischen Richtung, war also strenger Monarchist und gab in der Weltgeschichte stets den Päpsten Unrecht. Die Freuden dieser Welt hat er, glaube ich, nicht verschmäht. Sonntags hielt er in dem benachbartem Dorfe Kessenich eine Messe und Predigt, nahm aber gleich sein Jagdgewehr mit, das während der heiligen Handlung in der Sacristei stehen blieb. Daß er den Wein liebte, konnte Niemand, der diese Falstaff-Natur ansah, verkennen, und die Frauen, über welche er sehr zu schelten pflegte, hat er praktisch doch genau studirt, wie gewisse nach seinem Tode bei ihm aufgefundene Papiere darthaten. Ueberhaupt ist er zuletzt auch in seiner Lehrkraft sehr gesunken; zu meiner Zeit aber stand er noch auf seiner Höhe, und man lernte außerordentlich viel bei ihm. Eigen war, daß er den Schülern jede Frage beantwortete, wenn sie auch mit dem Unterrichtsgegenstande nicht entfernt zusammenhing. Das hat seine zwei Seiten: mir scheint es bei weisem Maßhalten nützlich, denn was der Schüler fragt, das zieht ihn an, und hier ist er also doppelt zum Begreifen befähigt. Wir benutzten dies, um ihn manchmal durch Vorlegung einer Zeitungsfrage in politische Gespräche zu verwickeln, die er besonders liebte, oder gar Erzählungen aus seinem Leben und andere Schnurren hervorzulocken, die er unvergleichlich vortrug. Letzteres Talent verleugnete er auch auf der Kanzel nicht, namentlich wenn er bei den Bauern eine Festrede zu halten hatte. In der älteren deutschen Literatur war nämlich Ulrich Megerle, der als Abraham a Santa Clara berühmte Wiener, sein Liebling, und dessen barocken Kanzelwitz suchte er nachzuahmen. Auf diese Predigten legte er Werth, und einmal lud er uns Schüler förmlich zu einer Kirmeßpredigt in dem nahen Friesdorf ein. Ich ging wirklich Sonntag früh von Oberkassel aus hinüber. Er kam in seiner Predigt vom Hundertsten in’s Tausendste, besprach zum lauten Gelächter der Zuhörer die Klatschwuth der Bauerweiber und die Streitsucht der Männer, und gab zuletzt ebenso weise als ausführliche Regeln, wie man auf möglichst nachsichtige Weise einen Jeden behandeln solle, der während der Kirmeßtage im Weine des Guten zu viel thäte. Eine besonders geistliche Sittenlehre wird man das schwerlich nennen – möglich jedoch, daß er durch diese Predigt der Gemeinde Friesdorf ein paar blutige Köpfe erspart hat.

Dieser Mann trug uns in Tertia die Geschichte vor, die er bis gegen den Schluß des Mittelalters herabführte. Er hatte darüber ein Heft ausgearbeitet, das wir abschreiben und einlernen mußten, nachdem er uns zuvor zu jedem Abschnitte mündliche Erläuterungen gegeben hatte. Das Fach überschaute er mit gesundem Menschenverstande und hielt streng darauf, daß wir Alles klar auffaßten und scharf im Gedächtniß behielten. In diesen Lehrstunden habe ich die dauerhafte Grundlage meiner gegenwärtigen Fachstudien gelegt und die Geschichte zuerst sehr lieb bekommen. Auch der Virgil, den er in Secunda vortrug, ging uns gut ein und machte uns Freude. Dagegen war seine deutsche Literaturgeschichte in Prima ohne alle Vorstudien und ganz zusammenhanglos, und seine Stilübungen brachten uns auch nicht weiter. Zu Allem, was Schwung forderte, war Domine denn doch zu schwerfällig.

Die Mathematik und Physik trug in den beiden obern Classen ein Lehrer vor, der Bedeutendes in seinen Studien leistete und den Titel eines Gymnasialprofessors führte. Er hieß Ließen und war allgemein hochgeachtet, wegen seines freundlichen Eifers auch geliebt. Es ist oben schon gesagt, daß ich Mathematik niemals lernen konnte; ich erwähne seiner aus einem andern Grunde, weil er uns nämlich Stoff eines Heldengedichtes geworden ist. Er hatte beim Unterricht gewisse stehende Formeln angenommen und pflegte, wenn sein Kopf etwa mit einer schwierigen Rechnung beschäftigt war, seltsame Sprachfehler zu machen, wie ich ihn denn selbst einmal „die Tochter des Mutters“ habe sagen hören. Nun hatten die Fähigen unter uns eine leidenschaftliche Vorliebe für den Homer gefaßt, welchen der Oberlehrer Lucas in Secunda und Prima auf lebendige, oft joviale Weise erklärte und veranschaulichte. Kein Schriftsteller des Alterthums reizt so zur Nachahmung, keiner ist auch zur Parodie so geeignet. Die feierliche Wiederkehr derselben Verse, die Wiederholung der so erhabenen und oft doch so wunderlichen Beiwörter, die naturfrischen Gleichnisse, endlich die naive Art, wie die Helden aus den einfachsten Gefühlen und kindlichsten Antrieben heraus handeln – alles das kann dem modernen Geschmack durch die kleinste Uebertreibung lächerlich gemacht werden. Wirklich hat ja schon das Alterthum in dem Frosch- und Mäusekrieg eine allerliebste Travestie geliefert. Solch einen Plan entwarf auch unser Uebermuth. In stelzbeinigen Hexametern, die den Ton und selbst den oft barocken Silbenfall der Vossischen Uebersetzung nachäfften, wurde im ersten Gesang der Helmesiade (denn so hieß das Werk von Liessens Vornamen Wilhelm) eine mathematische Lehrstunde geschildert, in welcher außer dem Professor und seinen unvermeidlichen Redensarten alle Classenschüler in ihren schlechtesten Eigenschaften Parade machten. Um aber auch eine homerische Schlachtscene anbringen zu können, wurde im zweiten Gesang der friedsamste aller Sterblichen in einen heftigen Streit verwickelt, in welchen sodann gleich Göttern und Helden alle übrigen Lehrer nach und nach handelnd und leidend hineintraten. Dieses Schlachtgetümmel war jedenfalls der Glanzpunkt dessen, was von dem Ganzen fertig geworden ist: es bildete, wie der Zorn Achill’s in der Ilias, den Knoten für das fernere Geschick des Helden. Allein in den folgenden Gesängen stockte das Werk: denn auch darin sollte Homer nachgeahmt werden, daß dem nachfolgenden Sängergeschlecht die Fortsetzung überlassen bliebe. Und so geschah es auch; die Schüler des nächsten Jahres haben bruchstückweise an unserem Gesange

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_046.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)