Seite:Die Gartenlaube (1873) 769.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


und nehmen dann an dem erwähnten Tische im Hintergrunde des Parlors einen kleinen Imbiß. Der Labetrunk, der ihnen von den schönen Händen der Dame credenzt wird, verfehlt niemals seine eigenthümlich anregende Wirkung. Man lacht und scherzt eine Weile; die näheren Bekannten der Dame des Hauses erhalten in der Regel die Erlaubniß, ihre rosigen Lippen küssen zu dürfen, lassen als Quittung für den genossenen Empfang ihre Karten zurück und besteigen dann den auf gemeinschaftliche Kosten und zu einem exorbitanten Preise gemietheten Wagen, um ihre Runde fortzusetzen.

Noch hat sich die eine Partei indessen nicht entfernt, so ist bereits eine zweite Abtheilung da, und das Spiel beginnt von Neuem und wird den ganzen Tag hindurch fortgesetzt, denn immer neue Besucher erscheinen, welche sich nur, je weiter der Tag vorschreitet und sich seinem Ende zuneigt, durch ihre immer größere Gesprächigkeit, ihre immer lautere Heiterkeit und die immer längere Dauer ihrer Visite vor ihren Vorgängern auszeichnen. Nicht Wenigen von ihnen wird das Fortgehen so schwer, daß sie sich sogar mit Gewalt fortreißen und in ihren Wagen tragen lassen müssen, wobei die Einen oft vor Wehmuth laut schluchzen, die Anderen in hellen Jubel über das genossene Vergnügen ausbrechen, noch Andere über die für sie so schmerzliche Trennung in so große Aufregung und Wuth gerathen, daß sie nicht mit Worten allein dagegen protestiren und auch auf dieselbe Weise beruhigt werden müssen. Da sieht man es ganz deutlich, welchen Zauber unsere jungen Damen auf unsere jungen Männer ausüben. Man darf nämlich nicht außer Augen lassen, daß diese Herren in der Regel eine bedeutende Anzahl solcher „Calls“ machen, und da sie überall von den Damen mit gleicher Zuvorkommenheit und Freundlichkeit empfangen werden, so ist es nur natürlich, daß ihnen vor Rührung die Herzen auf- und die Augen übergehen. Der oben erwähnte Tisch mit den Flaschen hat selbstverständlich mit dieser Rührung nicht das Geringste zu schaffen, – das geht schon daraus hervor, daß einige fanatische Temperanzler es am letzten Neujahrstage versucht haben, statt der bisher gebräuchlichen Stimulanzen Kaffee und Thee einzuführen, eine Sittenverderbniß, gegen welche unsere jungen Leute beiderlei Geschlechts voll gerechter Entrüstung protestiert haben. Der Abend des ersten Januar ist endlich angebrochen. Müde und erschöpft von der Aufregung des ganzen Tages und doch glücklich über die ihr gewordenen Aufmerksamkeiten und Huldigungen, sitzt die junge Dame in Gesellschaft ihrer besonders bevorzugten Freunde, die sich den Besuch bei ihr natürlich bis zuletzt aufgespart haben, um in ihrer Gesellschaft den Abend zu verbringen, überläuft die Liste der empfangenen Besuche und sieht, ob auch kein theures Haupt fehle. Die Straßen, auf denen es den Tag über von Wagen und Fußgängern gewimmelt hat, werden immer leerer und öder, und diejenigen Spaziergänger, denen man jetzt noch begegnet, zeichnen sich gewöhnlich durch ihre außerordentlich laute Lustigkeit aus oder verrathen einen unwiderstehlichen innern Drang, dem silbernen Monde, wenn er gerade scheint, oder den Bäumen, Häusern und Laternenpfählen die keuschen Geheimnisse ihres Herzens mitzutheilen; namentlich für die letzteren zeigen sie eine so tiefe Zuneigung, daß sie dieselben oft umarmen und voll Inbrunst an ihr Herz drücken. Auch scheint sich der kleine Puck an diesem Abende ein besonderes Vergnügen daraus zu machen, harmlose Wanderer irre zu führen, denn es ist kaum glaublich, wie Viele an diesem Abende nicht im Stande sind, ihre Wohnung aufzufinden und daher von einem in einen blauen Rock mit silbernem Schilde gekleideten Schutzgeist nach den verschiedenen Hôtels geführt werden, die unter dem Namen Polizeistationen allgemein bekannt sind und welche die Stadt New-York für derartige Verirrte eingerichtet hat. Dort bringt der Verirrte in einem allerdings mehr auf seine Sicherheit als auf seinen Comfort berechneten Zimmer die Nacht zu und zahlt am nächsten Morgen an den Wirth, welcher mit dem pomphaften Titel „your honor“ (Euer Ehren) angeredet wird, ein Schlafgeld von zehn Dollars, was in Anbetracht der Ehrlichkeit, mit welcher über die empfangene Summe in sämmtlichen Tagesblättern der Stadt mit genauer Angabe des Namens und der Wohnung des Gastes quittirt wird, nicht zu teuer ist.

Am zweiten Januar wiederholen sich, jedoch nur einzig und allein in New-York, die Scenen des Neujahrstages, nur mit dem Unterschiede, daß die Herren in ihren Geschäftslocalen und Privatwohnungen es sind, welche die Besuche empfangen, und die jungen Damen diesmal die „Calls“ machen und sich an dem auch heute nicht fehlenden, sondern wo möglich noch reicher versorgten Tische ein wenig erfrischen. Deshalb heißt dieser Tag auch der „Ladies Day“, der Tag der Damen, und heute wimmelt es auf allen Straßen von Damen, welche, gerade wie gestern die Herren, in kleineren oder größeren Gesellschaften ihre Runde machen und denjenigen die Ehre ihres Besuches gönnen, welche sie gestern bei sich empfangen haben. Daß es an diesem Tage, obgleich das Geschäft durch diese Besuche nicht unterbrochen wird – wie könnte der Amerikaner auch wohl gleich zwei Tage hintereinander „verlieren“! –, noch viel heiterer zugeht, bedarf kaum der Erwähnung, denn auch auf die Mitglieder des zartern Geschlechts übt merkwürdiger Weise die Freundlichkeit der Herren dieselbe zauberhafte Wirkung aus, und auch sie zeigen am Abende des „Ladies Day“, wenn auch nicht ganz in so hohem Grade, dieselben Symptome lauter Fröhlichkeit, tiefer Rührung und stiller sinniger Beschaulichkeit, welche am vorherigen Abende an ihren Freunden zu bemerken waren; nur nehmen sie sich so viel wie möglich vor den losen Streichen des kleinen Puck in Acht. – Am nächsten Morgen ist die ganze Herrlichkeit zu Ende und nichts davon zurückgeblieben als jener unbeschreibliche Zustand, welcher mit dem Namen „das graue Elend“ so treffend bezeichnet wird. Für einige Tage bieten die Vergleiche zwischen den einzelnen Callregistern den Damen noch Stoff zur Unterhaltung, und dann vergehen sechs lange einförmige, durch keinen Festsonnenstrahl erhellte Monate, bis am Morgen des vierten Juli die amerikanische Festessonne in ihrer ganzen Herrlichkeit aufgeht und die ganze Union ihr laut entgegenjubelt.

Von diesem 4. Juli ein andermal!




Blätter und Blüthen.


Noch einmal die alte deutsche Puppenkomödie. Die hervorragende Bedeutung, welche die alten Puppenspiele für unsere Literatur und Culturgeschichte haben und welche Fr. Helbig in Nr. 21 dieses Blattes eingehend besprochen hat, ist von den Literaturhistorikern stets anerkannt, und es ist kaum zu begreifen, daß uns dieselben nicht schon lange im Druck vorliegen. Hat man doch längst begonnen, mit wahrem Bienenfleiß und schätzenswerther deutscher Gründlichkeit die alten Volkslieder, Märchen und Sagen aus allen Winkeln und Ecken zusammenzutragen; sollte das alte deutsche Volksdrama weniger Berechtigung haben, gesammelt und durch die Druckerschwärze der Welt erhalten zu werden? Dieses Stück echter deutscher Vokspoesie schien bis jetzt ernstlich Gefahr zu laufen, der Literatur und dem Volke vollständig abhanden zu kommen. Den Hauptgrund hierfür müssen wir wohl in dem strenggewahrten Zunftgeheimniß der Puppenspieler suchen, welches jede Vervielfältigung durch Druck und handschriftliche Aufzeichnung verbietet und ausschließlich eine mündliche Ueberlieferung der Stücke von dem „Meister“ auf den „Gesellen“ bedingt, welch letzterer nach dem Tode des Meisters dessen volle Erbschaft antritt und mit derselben namentlich auch die Figur des „Hanswurst“, jetzt „Kasperle“, übernimmt.

Fleißige und bedeutende Forscher auf dem Gebiete altdeutscher Literatur, wie Oskar Schade und Karl Simrock, haben nur das Puppenspiel „Doctor Johann Faust“ im Druck herausgegeben; dem Simrock’schen soll der Text des bekannten Puppenspielers Geißelbrecht zu Grunde liegen.

Geißelbrecht, ein Wiener Mechanikus, zog mit seiner Marionettenbühne im ersten Decennium dieses Jahrhunderts in Deutschland herum und hatte seinen Hauptsitz in Frankfurt am Main. Er gab vorzugsweise moderne Stücke; die eigentlichen Puppenspiele hatte er nicht in so alter, unverfälschter Ueberlieferung, wie die Gesellschaft „Schütz und Dreher“, welche ihrer Zeit viel Aufsehen machte und nach dem Urtheile verschiedener Schriftsteller die Puppenspiele in ältester, möglichst unverfälschter Form gegeben haben soll. Diese Marionettenbühne war so vortrefflich, daß man im Jahre 1804 zu Berlin fast alle Abende die geistreichsten Männer und Frauen, Philosophen, Dichter und Kritiker dort zu finden pflegte. – Fr. Heinrich von der Hagen sagt über den Schütz-Dreher’schen „Faust“ Folgendes:

„Die älteste Gestalt trägt ohne Zweifel noch jenes Spiel, das sich seit etwa vierzig Jahren wohl Mehrere mit uns erinnern, hier in Berlin und Breslau gesehen und gehört zu haben durch die unter dem Namen ‚Schütz und Dreher‘ von Zeit zu Zeit erscheinende Gesellschaft.“

Diese mit ihrem „Kasperle“ aus Oberdeutschland kommende Gesellschaft gab eine ganze Reihe von guten älteren Stücken, ritterliche Schauspiele, romantische Umdichtungen antiker Mythen, auch geistliche Stücke aus Bibel und Legende und geschichtliche Stücke, wie „Der Raubritter“, „Der schwarze Ritter, „Medea“, „Alceste“, „Judith und Holofernes“, „Haman und Esther“ (auch von Goethe benutzt), „Der verlorene Sohn“, „Genoveva“, „Fräulein Antonia“, „Mariana oder der weibliche Straßenräuber“,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 769. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_769.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)