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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

 Leonorens Antwort.

Jüngst träumte ich: ich stieg aus blauen Wellen
     In einem zarten, silbernen Gewande;
     Ein mächtig Sehnen zog mich hin zum Lande,
     Obgleich ich war die Königin der Quellen.

Wär’ ich’s, wie manche Nacht wollt’ ich erhellen,
     Wie milde lösen schwere, feste Bande;
     Nur Lieb’ und Reinheit nähm’ ich an zum Pfande,
     Wer etwas bei der Nixe wollt’ bestellen.

     Dann würd’ ich in verschiedenen Gestalten
     Bald Schäferin, bald Elfe Dir erscheinen,
     Damit ich Dir nicht immer Fürstin bliebe.

Doch Traumbild war’s. Es ist nicht festzuhalten:
     Der Fürstensaal gleicht nicht den Feeenhainen:
     Zu schön für diese Welt ist – Dichters Liebe.“

Wir erhoben uns, um unserer Anerkennung, Bewunderung und Dankbarkeit einen Ausdruck zu geben. Nunmehr drehte sich die ganze Unterhaltung nur noch um Frau Pierson. Unsere freundliche Wirthin hatte mir gegenüber Platz genommen. Man drückte das Bedauern aus, daß über das Leben der berühmten Frau so wenig Authentisches bekannt geworden sei, daß man z. B. nicht einmal das Geburtsjahr derselben kenne. Mit einem Ohre nach der Improvisatrice hinhörend, schlug unsere Wirthin rasch ihr Album auf und deutete nach dem Blatte, wo über den beiden Tasso-Sonetten die Bemerkung stand: Improvisirt von Caroline Leonhardt, geboren am 6. Januar 1814 in Zittau. „Warten Sie, meine Freunde!“ unterbrach sie sich sodann mit so lauten Worten, daß Frau Pierson, im Sprechen innehaltend, zu ihr hinüberlauschte, „meine Freundin kann keine Bitte abschlagen; gewiß wird sie uns die Freude bereiten, etwas aus ihrem reichen Leben zu erzählen; wir werden bei dieser Gelegenheit hoffentlich auch Einiges von ihrem Gatten, dem genialen Pierson, zu hören bekommen.“

Nach einigem Zögern begann Frau Pierson: „Ich bin die Tochter des sächsischen Hauptmanns Leonhardt. Kurz nach meiner Geburt starb meine Mutter; mein Vater, der wieder heirathete, erlag bald seinen im russischen Feldzuge erhaltenen Wunden. Meine Stiefmutter heirathete den sächsischen Hauptmann Dreverhoff, und ich hatte nunmehr zur Stiefmutter auch den Stiefvater erhalten. Ich erinnere mich aus meinem zwölften Lebensjahre, wie sich mein sogenanntes Improvisationstalent gelegentlich einer Schulprüfung bei Declamation eines Gedichts verrieth, als ich eine ganze Strophe unvorbereitet aus eigener Phantasie einlegte, ohne nur einen Augenblick schüchtern oder verlegen zu werden. Zur Rede gesetzt, entschuldigte ich mich mit mangelhaftem Gedächtnisse und mußte dann bekennen, daß diese Strophe von mir selber sei. Von nun an gab mir der Lehrer einige dürftige Anleitung im deutschen Versbau, und ich schrieb viele Verse, die nicht so ganz mangelhaft gewesen sein können, da einige derselben gewürdigt wurden, auf dem Staatsarchive zu Zittau aufbewahrt zu werden. Meine Verwandten verhielten sich meiner Neigung gegenüber mehr apathisch als aufmunternd – antipathisch ist vielleicht das bezeichnende Wort. Sie wollten von einen dichtenden Mädchen nichts wissen, weshalb ich meine Gedichte, Märchen, Novellen meist hinter ihrem Rücken schrieb. Zuletzt wandte ich mich nach Dresden, wo mich der unvergeßliche Friedrich Kind in literarische Kreise einführte, mir die nöthige Unterstützung und Anregung für Vertiefung meiner Bildung gewährte und mir namentlich eine weitgehende Perspective in die Gesetze der Prosodik und Metrik eröffnete.“

„Erhielten Sie von Kind regelrechten Unterricht in der deutschen Poetik?“ fragte ich höflich unterbrechend.

„Dies nicht. Nur gelegentlich sprach er mit mir über diese und jene Form, aber er lieh mir doch die Werke, die mir Aufschluß geben konnten, besonders Eschenburg’s ‚Theorie der schönen Wissenschaften‘. Nachdem in meinem zwanzigsten Lebensjahre – 1834 – meine Jugendgedichte unter dem Titel ‚Liederkranz‘ erschienen, schrieb ich fünf Jahre später die kurze Biographie der Improvisatrice Louise Karschin, und hierdurch wurde die Lust in mir rege, mich öffentlich, wie ich es ja privatim so oft mit Erfolg gethan, als Stegreifdichterin zu bethätigen. Mein Entschluß war ein Wagniß. Es gährte heftig in mir. Friedrich Rückert, der in jener Zeit im Zenith seines Ruhmes stand, schien der einzige Mann zu sein, von dem ich mir Raths erholen konnte. An ihn wandte ich mich. Er sollte mir sagen, ob mein Entschluß einer Dichterin unwürdig, ob er unpassend oder unweiblich sei. Schon nach wenigen Tagen erhielt ich die Antwort, daß Rückert die Ausbildung eines solchen Talents für Pflicht halte, daß er 1817 in Rom die berühmte Rosa Taddei mit vieler Erbauung gehört habe und daß seiner Meinung nach gerade eine Frau besonders geeignet sei, den Eingebungen des Augenblicks zu folgen und eine Gabe auszubilden, bei welcher das Gefühl das Wesentliche sei. Der Rubicon lag hinter mir. Kaum hatte ich Rückert’s Brief erhalten, als ich ohne Aufenthalt nach Erlangen abreiste, um meine Leistungen dem Urtheile des großen Dichters und des letzten Classikers unserer Tage zu unterstellen.“

„Das war wohl im Februar 1840?“ fragte ich.

„Ganz recht; aber woher wissen Sie das so genau?“

„Ich erinnere mich, in einem Briefe Rückert’s an seinen Freund Scheler gelesen zu haben, daß ihm eine debütirende ‚gewaltige Improvisatrice‘ in jener Zeit einmal etwas vorimprovisirt habe.“

„Einmal?! Mehrere Tage hintereinander habe ich Rückert’s Aufgaben gelöst, ich darf wohl ohne unbescheiden zu sein sagen, zu seiner begeisterten Zufriedenheit gelöst. Er hatte eine gründliche Prüfung mit mir angestellt; in allen Rhythmen und Formen hatte er meine Kunst versucht, bis er mir den Ritterschlag mit den Worten ertheilte: ‚Gehen Sie hin, meine Liebe! Sie werden eine Zukunft haben.‘“

„Diese Beurtheilung flößte Dir Vertrauen ein,“ sprach die Jugendfreundin,“ während sie wieder in ihrem Poesie-Album blätterte und dasselbe mir aufgeschlagen über den Tisch reichte. „Mit Stolz,“ so fuhr sie fort, „erfüllte meine Freundin besonders dieses bis heute völlig unbekannt gebliebene hochinteressante Gedicht Fr. Rückert’s, das der Dichter bei ihrer Abreise aus Erlangen flüchtig auf’s Papier warf.“

Ich ergriff das dargereichte Buch und las:

 An Caroline Leonhardt-Lyser.
Der erste Dichter, der die Welt entzückte, war
Gewiß ein Stegreifdichter, dem, vom Geist bewegt,
Unvorbereitet von der Lippe floß das Wort.
Lang vor Homer hat Orpheus, um Eurydice
Beseelte Saiten rührend mit Stegreifsgesang,
An’s Thor der Hölle, das nicht widerstand, gepocht.
Und weil zum Anfang wieder nur das Ende kehrt,
So wird zur Stegreifdichtung unsre Dichtung auch
Einst wiederkehren, wenn ich prophezeien kann.
Nicht aus dem Stegreif heute, sondern sattelfest
Im Flügelroß, auf welches mich Begeist’rung hob,
Richt’ ich des Loblieds goldnen Pfeil, den tönenden,
Auf eine Stegreifdichterin, und preise Dich,
Corinna Deutschlands! – ich, der erste Dichter nicht,
Noch auch der letzte, Dich, die letzte nicht, jedoch
Gewiß die erste deutsche Stegreifdichterin.“

Man betrachtete noch das von Platz zu Platz wandernde Poesie-Album, als Jemand der Wirthin die Frage zuflüsterte, ob der Name Lyser, den die Ueberschrift des Gedichtes nenne, fingirt, oder ob Frau Pierson schon einmal verheirathet gewesen sei.

Die Wirthin legte den Finger auf den Mund. „Lassen Sie sich ja nicht einfallen, eine ähnliche Frage an meine Freundin zu richten!“ sagte sie in halblautem Tone; „meine Freundin spricht nie von ihrer ersten Ehe, von der ich weiß, daß sie eine sehr unbefriedigende gewesen ist. Ihr erster Mann war der bekannte Novellist J. P. Lyser (geboren in Flensburg 1804). Schon nach wenigen Jahren wurde die Ehe wieder gelöst. Die beiden Töchter, die derselben entsprossen, wurden von ihrem zweiten Manne, Pierson, adoptirt. Die hierauf bezüglichen Privatverhältnisse sind für die künstlerischen Leistungen meiner Freundin ohne Bedeutung. Lassen Sie uns darüber schweigen und die Sache übergehen! Hat ja doch auch die deutsche Presse bei dem Tode Lyser’s in tactvollster Weise die Motive dieser Ehetrennung übergangen. Lyser, über den Sie in Literaturgeschichten das Wesentliche finden, hat übrigens Manches zur Verbreitung des Ruhmes seiner Frau beigetragen.“

„Und wohin wandten Sie sich von Erlangen?“ fragte Einer aus der Gesellschaft die liebenswürdige Improvisatorin, und diese fuhr fort:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_712.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)