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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

er mit sicherer Hand. Was die Menschenbrust bewegt an Last und Leid, das klingt er in Tönen aus. Zwar ist von den Sonnenstrahlen, die seinen Sang durchleuchten, wenig zu spüren in seinem Leben; ein um so treuerer Gefährte war ihm der Schmerz, und aus thränenreicher Saat sind ihm viele seiner unvergänglichsten Gebilde aufgegangen. Bekennt er doch selbst in seinem Tagebuch: „Jene meiner Erzeugnisse, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen die Welt am meisten zu erfreuen.“

Ueberblicken wir die reiche Fülle seiner Schöpfungen, so gewahren wir keine Kunstart, von der höchsten herab bis zur geringsten, deren Pflege er nicht aufgenommen hätte in sein künstlerisches Tagewerk. Einige seiner Compositionen für Kammermusik, wie die Quartette in A-moll und D-moll, die beiden Trios, das tiefpoetische Streichquintett, und seine letzte große Symphonie behaupten eine bleibende Stelle unter den Meisterwerken unserer Musikliteratur. Seine eigenste Sphäre aber bleibt das Lied; als Schöpfer desselben im modernen Sinne hat er seine höchste Bedeutung gewonnen. Sein eigentlichster Inhalt culminirte eben in lyrischen Gaben, ja seine kunstgeschichtliche Mission wies ihn auf die Entwickelung einer Kunstform hin, die in geringerem Grade als die andern Musikgattungen von der Hand der großen classischen Meister die Weihe der Vollendung empfangen hatte. Die Voraussetzungen zu einem musikalischen Liederfrühling hatten sich erfüllt. Einen Blüthenreigen ohne Ende hatte die lyrische Poesie unseres Vaterlandes im Anschluß an Goethe hervorgezaubert, welcher nur der Wiedergeburt in Tönen zu harren schien. Desgleichen war das geistige und technische Wesen des begleitenden Instrumentes, dank Beethoven, der dem Clavier bereits seine unsterblichen Sonatendichtungen anvertraut, zur Genüge ausgebildet und geschmeidigt worden, um das gesungene Wort durch den vollen Reichthum der Harmonie und Figuration zu unterstützen. So brauchte Schubert sich nur der vorgefundenen Errungenschaften zu bemächtigen, um die Tonkunst einer neuen Phase der Entwickelung zuzuführen und jene vorzugsweise lyrische Epoche einzuleiten, die sich in Musik und Poesie bis in die Gegenwart hineinzieht.

Nicht Reflexion oder ästhetische Speculation führte ihn dazu, das Wesen des Liedes zu vertiefen, seinen Inhalt geistig zu erweitern, es nach der Seite der Charakteristik und lyrischen Dramatik hin auszubauen: ihn leitete dabei einzig der ihm eingeborene künstlerische Instinct. Eine unglaublich üppige, leidenschaftlich erregte Phantasie, eine eigenthümlich malerische Gestaltungsgabe drängten zum Ausfluß; sie verlangten so zu sagen die Inscenirung jedes Sujets; das Lied erweiterte sich unwillkürlich zur Scene, ohne darum doch seines lyrischen Grundcharakters verlustig zu gehen. Mit unerschöpflicher Sangeslust begabt, über einen Melodienschatz verfügend, dem sich an Unversiechlichkeit kaum ein anderer als derjenige Mozart’s vergleichen läßt, flossen seine Lippen über von Liedern ohne Ende. Jeder Vers, den seine Hände berührten, verwandelte sich zum fertigen Tongebild. Fast wahllos gestaltete er aus der Ueberfülle eines nahezu unbegrenzten Vermögens heraus, das ihn nirgends an Beschränkung mahnte. So schuf er rastlos auf inneres Geheiß, voll jener Naivetät und Unmittelbarkeit, die den Genius unbewußt das Rechte treffen, ihm Glück und Schmerz zum künstlerischen Segen, zum Gewinn für sich und die Nachwelt gedeihen läßt.

Was Wunder, da eben die Kunstart, der er seine Pflege vorzugsweise widmete, eine specifisch deutsche ist, daß seine Lieder vor Allem ihn zum Liebling des deutschen Volkes gemacht, daß er durch sie demselben an’s Herz gewachsen ist? Volksthümlicher als er ist kein andrer Sänger geworden. Oder wo fände sich ein Kunstlied, das sich an Popularität mit dem „Erlkönig“ oder dem „Wanderer“, dem „Ständchen“ oder den „Müllerliedern“ messen dürfte? Mußte er auf instrumentalem Gebiet noch einen Andern, Höheren, wenn auch keinen Geringeren als Beethoven über sich erkennen, im Bereich des Liedes hat er den höchsten Gipfel erklommen; nur neben und mit, nicht über ihm sind die nach ihm kommenden Liedergrößen, Robert Schumann und Robert Franz, zu nennen. Sie stehen neben einander als ebenbürtige Genossen – die reichste, ursprünglichste Musiknatur unter ihnen aber war gleichwohl der Erstgeborene. Der Einfluß ihrer Zeit, die moderne vielseitigere Bildung, philosophische Schulung und poetisirende Neigung wiesen die beiden Jüngeren in neue Bahnen und ließen sie, im Gegensatz zu ihm, dem das rein Musikalische als das Wesentlichste galt, das Lied mehr von der poetischen Seite erfassen, die dichterische Intention mehr in den Vordergrund stellen. Ihrer reflectirenden Art gegenüber tritt seine naive Unmittelbarkeit in’s hellste Licht. Mit ihm aber, so scheint es, kam der Tonkunst die Naivetät nunmehr für lange abhanden. Absichtslos und selbstgenügsam, geräuschlos und still wie die Natur selbst, waltete schaffend sein Genius; still und geräuschlos, selbstgenügsam wie sein Wirken stellt sich auch sein äußeres, persönliches Leben der Betrachtung dar.

Als schlichter Eltern Kind kam Franz Schubert am 31. Januar 1797 auf die Welt[1]. Sein Vater, der Sohn eines Bauern aus Oesterreichisch-Schlesien, leitete in Lichtenthal, einer Vorstadt Wiens, eine Trivialschule; seine Mutter, Elisabeth geborerne Fitz, hatte ehemals als Köchin gedient. Unter vierzehn Kindern, mit denen der Himmel, überreich für ihre dürftigen Verhältnisse, sie gesegnet hatte und zu denen dem Vater später in zweiter Ehe noch fünf hinzugeboren wurden, ward ihnen Franz als vierter Sohn geschenkt. Mangel und Sorgen zu Gefährten, wuchs er auf, und nur das Angebinde, das die Musen ihm in die Wiege gelegt, verklärte von früh an sein Dasein. Der Vater in Gemeinschaft mit dem älteren Bruder Ignaz machte ihn auf Clavier und Violine heimisch; dann nahm der regens chori Michael Holzer ihn im Gesang und Generalbaß, wie auf Pianoforte und Orgel unter seine Flügel. Mit Rührung versicherte der Lehrer, einen solchen Schüler noch niemals gehabt zu haben, der wie Franz „die Harmonie im kleinen Finger habe“, und frischauf begann der Knabe schon zu componiren. Elf Jahre alt, war er bereits als tüchtiger Sopransänger und Geiger auf dem Chor der Lichtenthaler Pfarrkirche thätig; bald darauf (im October 1808) trat er als Sängerknabe in die kaiserliche Hofcapelle und zugleich als Zögling in das Wiener Stadtconvict ein. Bei den vorhergegangenen Prüfung hatte er das Interesse der beiden Hofcapellmeister Salieri und Eybler derart erregt, daß seine Aufnahme sofort erfolgte. Schenkte er den übrigen Unterrichtsgegenständen nur geringe Aufmerksamkeit, sodaß sogar öftere Nachprüfungen nothwendig wurden, so war das musikalische Treiben im Convict seiner Entwickelung nach dieser Richtung um so förderlicher. Durch die daselbst alltäglich stattfindenden Aufführungen, bei denen er zuerst als Violinspieler, später als Dirigent mitwirkte, lernte er die Schöpfungen der classischen Meister kennen und seinen Tonsinn an denselben bilden, wie es denn vor allem die Werke Beethoven’s waren, die ihn mit Begeisterung erfüllten. Anderseits wurde ihm dort zugleich die willkommene Gelegenheit geboten, seine eigenen Compositionen zu Gehör zu bringen.

Als dreizehnjähriger Knabe hatte er sich bereits in allen Gattungen seiner Lieblingskunst versucht, und nie kehrte er im Elternhause, wo er seine Ferientage zu verleben pflegte, ein, ohne für die von Vater und Brüdern regelmäßig mit ihm betriebenen Quartettübungen eine Gabe in Bereitschaft zu haben. Seit ihn, den gänzlich Mittellosen, die Wohlthätigkeit eines Freundes mit dem unentbehrlichen Notenpapier versorgte, überließ er sich sorglos seinem jugendlichen Schaffensdrang. Ein glücklicher Zufall führte eins seiner Lieder: „Hagar’s Klage“, in Salieri’s Hände und bestimmte diesen, ihm in Musikdirector Ruczizka einen besonderen Generalbaßlehrer zuzuweisen. Aber auch der neue Meister erklärte nur zu bald, daß sein Schüler schon Alles wisse. „Der,“ meinte er, „hat’s vom lieben Gott gelernt.“ So übernahm denn Salieri fortan die Ausbildung des ungewöhnlichen Talentes in höchsteigener Person. Der Unterricht bei ihm ward noch Jahre lang fortgesetzt, selbst nachdem Schubert im Herbst 1813 das Convict verlassen hatte, damit er auf Wunsch des Vaters diesen im Schulhaus als Hülfslehrer unterstütze. Er hörte nicht auf zu schaffen und zu gestalten, selbst unter dem bleiernen Druck eines Berufs, den er nur unter härtesten Kämpfen auf sich genommen, um dem Gebot des Vaters und der Sorge für seine Existenz zu genügen. Gerade in jene Zeit bitterster Qual und opfervollster Entsagung fällt, wundersam genug, das quantitativ reichste Jahreserträgniß seines Künstlerlebens. Ueber die Productivität des Jahres 1815 ist keins der späteren hinausgekommen. Weist es doch beispielsweise mehr als hundert Lieder, darunter den „Erlkönig“, die Gesänge Ossian’s und die Mignonlieder, zwei Symphonien, zwei Messen, verschiedene

  1. Ausführlicheres siehe: La Mara, Musikalische Studienköpfe. 1. Bd. 4. Aufl., Leipzig, Schmidt u. Günther.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_795.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)