Seite:Die Gartenlaube (1881) 876.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Eine besondere That, Herr Erzengel?!“ schmunzelt Jeremias. „Na, dann schauen Sie einmal her!“ und mit einer energischen Bewegung hielt er dem seligen Geiste sein Manuscript unter die Nase. „Da glaube ich denn doch, daß ich mindestens unter den Talentvollen ein Plätzchen bekomme.“

„Ich kann irdische Handschriften nicht lesen,“ erwiderte der Engel, nachdem er einen flüchtigen Blick auf das Heft geworfen hatte. „Kennst Du hier Jemanden, der Deine Schrift zu beurtheilen vermöchte?“

„Ja natürlich!“ rief Jeremias. „Fähren Sie mich nur zu Ferdinand Lassalle oder zum Professor Gottfried Kinkel – doch nein, der ist noch nicht todt. Also zu Herrn Lassalle, wenn ich bitten darf – der ist auch gewiß der Beste.“

Stillschweigend schwebte der Engel mit unserem Meister durch einen weiten Park, aus dessen Gebüschen Paradiesvögel und Papageien flatterten und herrliche Fontainen Punschsyrup in die Höhe spritzten, bis zu einer dichten Laube. Diese bildete den Eingang zu einem andern Saale, der ebenfalls mit seligen Geistern ausgefüllt war. Statt aus Gold waren die Bänke hier uns Rubinen, aus faustgroßen Smaragden und Topasen zusammengesetzt, und die darauf Sitzenden sangen nicht, sondern declamirten in einer unverständlichen Sprache. Der Engel schritt hinein. Jeremias wollte ihm folgen, wurde aber wie von einem unüberwindlichen Drucke an der goldenen Schwelle zurückgehalten.

Nach einer kurzen Weile trat der Himmelsbote wieder heraus in die Laube, hinter sich Lassalle. Sonderbar, so lange Lassalle noch im Saale war, trug er ein ebenso blaues Gewand wie alle anderen dort Anwesenden, leuchteten seine Züge und seine Hände ebenso weiß. Kaum aber. hatte er die Schwelle überschritten, als er dieselben schwarzen Beinkleider und denselben tadellosen Frack trug, welche schon bei der Gerichtsverhandlung in Düsseldorf, wo Jeremias ihn zuerst erblickte, dessen bekleidungskünstlerische Bewunderung in so hohem Maße erregt hatten. Ein penetranter merkwürdig natürlicher Gänsebratenduft schien an Stelle des Lichtstromes getreten zu sein, welcher den berühmten Agitator eben umfloß.

„Etwas Neues?“ fragte Lassalle.

„Jawohl!“ sagte der Engel und überreichte ihm Jeremias’ Manuscript. „Ich erbitte mir Dein Urtheil darüber.“

Lassalle durchblätterte das Heft flüchtig und versetzte dann: „Das ist crasser Unsinn. Du mußt den Mann in’s Purgatorium sperren. Er hat sich eine verrückte Grille in den Kopf gesetzt.“

„Was?“ schrie Jeremias; „Unsinn? Verrückte Grille? Einsperren? – Wie können Sie so etwas – sagen, Herr Lassalle? Wollen Sie denn vielleicht leugnen, daß unsere gegenwärtigen Rechtszustände im Allgemeinen total unhaltbar sind, daß dem unschuldigen durch das Gesetz geschädigten Staatsbürger noch immer keine Entschädigung wird, daß die Herrschaft des Capitals, die Classenwirthschaft, das Fabrikwesen, die Nähmaschinen jeden ehrlichen Handwerker, der es mit der soliden Handarbeit hält, in’s Elend stürzen? Haben Sie nicht selbst in Düsseldorf –“

Lassalle gab dem Engel das Manuscript zurück und sagte:

„Laß es verschwinden!“

Der Engel trat mit dem Fuße leicht auf den Boden. Durch den Tritt entstand ein Loch, woraus eine lodernde Flamme emporschlug, sodaß Jeremias entsetzt zur Seite sprang, aus den Flammen aber tauchte das lachende Gesicht eines gehörnten Teufels hervor, dem der Engel das „Unrecht des Rechts“ in den weit aufgesperrten Rachen schlenderte. Dem Schneidermeister wankten die Kniee. Lassalle wandte sich zum Fortgehen.

„Aber erlauben Sie, Herr Lassalle!“ kreischte Jeremias auf und faßte den Davonschreitenden mit dem Muthe der Verzweiflung am Frackzipfel. „Das ist denn doch ein Bischen stark! Wenn das Recht sein soll –“

„Laß mich in Ruhe!“ rief Lassalle. „Du bist hier im Himmel und nicht auf der Erde. Was kümmern mich Deine verrückten Allotria? Meinst Du vielleicht, Du könntest Deine dummen Gleichheitsideen und Rechtsbegriffe auch hier an den Mann bringen und mit Socrates, Dante, Goethe und Luther an einem Tische sitzen? Da irrst Du Dich doch gewaltig. Ungenügsame Menschen! Wollt Ihr auf der Erde schon einen Himmel haben, so begehrt Ihr hier noch einen besseren, und gäbe man ihn Euch, Ihr würdet bald wieder nach einem angenehmeren verlangen. Ach, auch ich strebte leider einmal, Euch zu helfen. Eure wirklichen und, was noch mehr, Eure eingebildeten Leiden zu mildern – aber sehr mit Unrecht! Euch Menschenkindern ist nie geholfen, weil Ihr meist Euch selbst nicht helft, weil Ihr nie Selbstbeschränkung, kein Pflichtbewußtsein, keine Erkenntniß besitzt. Thörichter Mann Du! Hättest Du, anstatt Deine Zeit mit den dummen Schmierereien zu vertrödeln und im ‚Goldenen Lümmel‘ Deine Hosen durchzurutschen“ – Jeremias, an seine Schneiderehre gefaßt, schaute unwillkürlich nach seinem hinteren Menschen, erblickte aber nur sein Leichenhemd – „hättest Du in an den schönen unbenutzten Stunden Flickarbeit gemacht, so könntest Du Dir jetzt zwei Gänse kaufen und eine Flasche Punschextract dazu. Dann brauchtest Du heute, am heiligen Sylvesterabend, nicht Pellkartoffel mit Häringen zu essen. Es ist ja eine Schande. Ein ordentlicher Arbeiter, der tüchtige, solide Handarbeit macht, und dann auf Sylvesterabend Pellkartoffel mit Häringen!“ –

Lassalle verschwand. Dem armen Schneidermeister waren die Thränen in die Augen gestiegen. Er schämte sich vor dem Engel und wollte sein Taschentuch herausziehen und sich die Nase zu putzen suchte aber wieder vergebens nach seinem Beinkleide.

„Komm in’s Purgatorium!“ sagte der Engel.

Jeremias trat drei Schritte zurück. Er wußte zwar nicht ganz genau, was das Purgatorium war, aber er verband mit dem Worte instinctiv den Begriff eines abgeschlossenen, Freiheitsentziehung bedingenden Raumes.

„Fällt mir gar nicht ein,“ sagte er entschlossen. „Heute ist Sylvesterabend und morgen Lieschen’s Geburtstag, und ich muß Lieschen ein neues Kleid schenken und muß auch noch die Knopflöcher glatt bügeln. Zudem, Herr Engel, gestehe ich Ihnen, daß es mir hier durchaus nicht gefällt. Wo einen die Frau nicht einmal wieder erkennt und so merkwürdig mit fremdem Eigenthum umgegangen wird, wo alles, was im Wochenblättchen steht, so schnurstracks herumgedreht wird und man nicht einmal seines Lebens sicher ist, da soll doch lieber gleich ein heiliges Schockmillionen –“

Aber er konnte den Fluch nicht aussprechen; denn kaum hatte er ihn auf den Lippen, als alles um ihn her in stockfinstere Nacht versank und er aus unmeßbarer Höhe in sausender Courierzugsschnelligkeit herunterwirbelte, immer tiefer, tiefer und tiefer, bis er mit seinen bloßen Füßen am Schwatzhausener Stromufer mitten in einem Distelstrauch zur Erde gelangte und mit einem lauten „Au!“ in die Höhe fuhr.

„Was ist Dir, Vater?“ hörte er die silberne Stimme Lieschen’s in sein Ohr klingen.

Schwer aufathmend schaute Jeremias mit blinzelnden Augen um sich. Wahrlich, da lag er auf seinem geliebten Werktisch, mitten unter den Flicken, auf seinen Füßen der Kater, sein zärtlicher Hitzepitz, der im Uebermaß animalischen Wohlbehagens nochmals seine spitzen Krallen in des Meisters Socken hakte, an einer Wiederholung seines Liebesbeweises aber durch einen wohlgezielten Fußtritt gehindert wurde.

Da lag er – da stand das wackelige Kleiderspind, die Kommode und der geborstene Ofen, und hinter dem Ofen das hölzerne Ellenmaß. Da hingen noch die altersgelben Lithographien der Revolutionshelden und die grünen Laubgardinen an dem kleinen Fenster; da waren die Schindeldächer und schwarzen Schornsteine, die das Wintermondlicht jetzt mit einem magischen, wunderbar sanften Glanze überschüttete. O, wie schön war es doch! Wie schön! Wahrhaftig, es war schöner als im Himmel!

„Du hast lange geschlafen, Vater,“ sagte Lieschen. „Ich wollte Dich eben wecken; denn es ist beinahe acht Uhr, und Du weißt, heut ist Sylvesterabend. Ich muß doch den Werktisch noch etwas abräumen!“

„Ja natürlich, Kind,“ murmelte Lump verwirrt, wischte sich den Schweiß von der Stirn und krabbelte sich mit seinen mageren Armen und Beinen vom Tische.

„Der Küster hat seinen Rock schon holen lassen. Die Magd hat fünf Thaler auf Abschlag mitgebracht. Den Rest bekämest Du nach Neujahr, ließ der Küster sagen.“

„Fünf Thaler?!“ rief Meister Lump. „Wo sind sie?“

„Hier, auf der Kommode!“

In einem Sprunge war Jeremias an dem alten Möbel und bedeckte mit einer raubthierartigen Bewegung die aufgezählten Thalerstücke mit beiden Händen Nie hatte ihm ein Tagelohn

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 876. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_876.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2021)