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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Die Gundel vom Königssee“, kennen; in ihnen herrscht eine warme Empfindung und die Gabe lebendiger Schilderung, besonders stimmungsvoller Naturmalerei. Beides findet sich auch in den Gedichten. Und zwar zeigt sich in ihnen die doppelte Seite seines Talentes: eigenartige Liederklänge, leicht hingehaucht, und pomphafte Rhythmen, welche wuchtige Gedanken tragen. Der Schwerpunkt seines Talentes neigt freilich mehr nach der letzten Seite; doch finden sich auch einige Liebeslieder in der Sammlung, in denen ein zu Herzen gehender Ton glücklich getroffen ist, so in dem Gedichte „Die weite Welt ist nun zur Ruh“ mit den schönen Schlußversen:

„Noch fühl’ ich das Beben Deiner Hand,
Als wir im Sommer schieden,
Der Winter kam und der Winter schwand;
Ich wand’re im fernen fremden Land
Und finde nimmer den Frieden.

Die ganze Seele füllt’ ich Dir aus,
Wärest Du jetzt mein eigen;
Doch Du schlummerst fern im grünen Haus,
Nachtfalter flattern herein, heraus
Und im Garten wandelt das Schweigen.“

Freilich schleichen sich oft bei Grosse in die leichten Liederverse schwerwiegende Gedanken; denn er giebt dem Liede, das in stiller Selbstgenugsamkeit austönen will, bisweilen weite geistige Perspectiven. Wenn aber seine Muse auf pomphaften Achtfüßlern oder in der verschlungenen Form der Terzinen, gleichsam mit weitrauschender Schleppe im poetischen Festgewande einherwandelt, da zeigt sie sich vollkommen in großer poetischer Repräsentation gewachsen in Gang und Geberde, wie z. B. in den „Tagebuchblättern“, in denen Grosse eine Kette von Reflexionen an einander reiht, die oft in prächtigen Bildern funkeln.

Ich glaube sogar, verehrte Freundin, daß diese pomphafte Eigenart der Muse des Dichters in der Sammlung nicht zu voller Geltung kommt: sie war dem Freunde, der die Auswahl traf, nicht ganz sympathisch. Paul Heyse hat mehr Sinn für das Graziöse als für das Schwunghafte; ich hätte lieber einige Humoresken gemißt, die Heyse aufgenommen hat.

In dem „Münchener Dichterbuch“, welches Heyse herausgegeben, finden Sie, verehrte Freundin, die ehemaligen Größen der königlichen Münchener Tafelrunde versammelt: Emanuel Geibel mit seinen elegischen Klängen, seinen oft wehmüthig gefärbten Jugend- und Lebenserinnerungen; Hermann Lingg mit seinem hymnenartigen Schwung, seinen grandiosen Gedanken, die sich leider oft in einer holprigen Form aussprechen; Bodenstedt mit seiner lächelnden touristischen Weisheit. Der Herausgeber selbst hat sinnige Gnomen beigesteuert und ein Drama: „Alkibiades“, das in graziösen Versen abgefaßt ist, in vornehmer dichterischer Haltung, die gegen die lässige Tagesdramatik vortheilhaft absticht. Leider ist der Held wenig heldenhaft und genial, ein Frauenliebling, der als das Opfer weiblicher Eifersucht fällt. Da hat die Perserin Mandane mehr dramatisches Blut.

In dem „Münchener Dichterbuch“ machte ich auch zuerst die Bekanntschaft des Klostermärchens „Bruder Rausch“ von Wilhelm Hertz, das jetzt vollendet in einer selbstständigen Ausgabe vorliegt. Das Gedicht enthält viel Drolliges und auch manchen poetischen Zug. Der „Bruder Rausch“ ist einer der kleinen Holden, der über siebenhundert Jahre in einem Klosterkeller einen Rausch ausgeschlafen hat. Die Verwüstungen, welche der kleine Geist in der klösterlichen Disciplin anrichtet, sind sehr munter geschildert. Auch die ferneren Abenteuer, die „Bruder Rausch“ auf seiner Wanderschaft erlebt, bei den Bauern, bei den Gelehrten und bei Studenten, sind ganz ergötzlich, bis er dann in’s Kloster zurückkehrt, den Mönchen willkommen als der Versucher, an dem sie die Kraft ihrer Tugend erproben können.

Originell ist die Episode, wo „Bruder Rausch“ einen seiner Verwandten trifft, der sich damit beschäftigt, zu spuken und als Feuermännlein umherzufackeln. Dieser führt ihn dann an den Kreuzweg, wo er ihm Walhalla’s ehemalige Heldenschaar zeigt, die jetzt als Schandgelichter umherfährt:

„Hier harre still! Sie nahen schon.
Hörst du der Eule Jammerton?
Spürst du, wie Alles, was da lebt,
In dumpfen Aengsten bangt und bebt?
Das Waldweib stöhnt im Hagedorn,
Windkatzen laufen durch das Korm.
Die Wolkenwölfe ziehn in Rotten
Mit ihren grauen Wetterzotten,
Der ganze Wald, er knarrt und kracht;
Sieh hin, da kommt’s. Es flammt die Nacht.
Und durch die Lüfte braust im Flug
Ein gräulicher Gespensterzug,
Ein Galgenvolk zu Haufen
Dem Rabenstein entlaufen;
Gehängte Diebe mit dem Strick
Um das gebrochene Genick,
Geköpfte, ein gedrängter Schwarm
Zu Roß, ihr glotzend Haupt im Arm,
Geräderte, durch’s Rad geschlungen,
Zerschellt mit ausgereckten Zungen,
Schnapphähne mit zerschlitzten Lippen,
Den Pfahl des Schinders in den Rippen,
Ein Mordgesindel ohne Zahl
In Leichenstarre fahl und kahl,
Von Krähen jämmerlich zerhackt,
In blut’gen Fetzen schmählich nackt,
Verwest, verwittert und zerzaust,
Mit Nattern in der Knochenfaust.“

Eine markige Schilderung von wüst phantastischem Gepräge! Das ganze Märchen hat diesen romantischen Zug; es klingt hier und dort eine sinnvolle Bedeutung herein; aber eine greifbare Moral läßt sich nicht herausfinden.

Noch volksthümlichere Töne als Wilhelm Hertz schlägt Rudolf Baumbach an, der in jüngster Zeit ein Liebling des Publicums geworden ist. Sehr reichhaltig ist zwar das Repertoire dieses Dichters nicht; er tritt fast immer als wandernder Geselle auf; aber er hat einen Ranzen voll drolliger Einfälle und allerliebster Genrebilder. Seine kleinen Gedichtsammlungen tragen die verschiedenartigsten Titel: „Spielmannsweisen“, „An der Landstraße“, „Mein Frühjahr“; doch es ist immer dasselbe muntere Gesicht mit den hellen Augen, das uns aus allen entgegenblickt. Die letzte Sammlung enthält „Gedichte aus Enzian, ein Gaudeamus für Bergsteiger.“ Es ist dies ein ziemlich bunter Blumenstrauß; des Dichters Muse erscheint hier in Hemdärmeln und es klingt bisweilen etwas hohl, wo sie mit dem Aspenstocke aufstößt. Scheffel’sche Humoresken in dem bekannten Naturforscherstil wechseln mit Gebirgssagen und Liederblüthen. In den späteren Sammlungen ist Baumbach indeß von dieser formlosen Jugendlichkeit zu größerer Geschlossenheit und zierlicher Rundung der künstlerischen Form durchgedrungen. Es ist wahr, daß die poetischen Jünger der Scheffel’schen Schule dem kleinen Elfengeiste von Wilhelm Hertz, dem „Bruder Rausch“, allzugern huldigen; und auch bei Baumbach finden sich zahlreiche Wein- und Schenkenlieder. Das Wirthshaus, die Frau Wirthin, die Wirthstochter … es ist fast immer dieselbe Decoration und Staffage, doch es sind mannigfache Stimmungsbilder, die sich auf dieser Bühne ablösen. Die „Lieder auf der Landstraße“ sind meistens Vagantenlieder, wie sie auch Franz Hirsch in so frischem Ton gedichtet hat; es athmet in ihnen eine behagliche Wanderlust, wie Sie, verehrte Freundin, aus der folgenden Probe ersehen mögen:

„Wenn die arme Welt mich hat,
Freut mich Eins am meisten:
Keiner kennt in Land und Stadt
Mich, den Zugereisten.
Wie ein Junker hochgemuth
Trag’ ich meine Stirne,
Kecklich schau’ ich unter’n Hut
Jeder hübschen Dirne.

Manches Mädchenauge licht
Blinzelt durch die Lider;
Gelt, ihr kennt den Vogel nicht
Diesmal am Gefieder?
Manche aus der Mädel Schaar
Denkt wohl auch im Stillen:
Kam der Bursch am Ende gar
Her um meinetwillen?

Daß ich ein Vagante bin
Ohne rothen Stüber,
Kommt nicht einer in den Sinn,
Geh’ ich stolz vorüber.
Ob mir Geld im Säckel klirrt,
Ob mir’s fehlt am Baaren –
Fragt ihr morgen früh den Wirth,
Könnt ihr’s leicht erfahren.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_102.jpg&oldid=- (Version vom 12.2.2023)