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Seite:Die Grundhypothesen der Elektronentheorie.djvu/2

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F. Das Elektron ist einer Formänderung überhaupt nicht fähig.

G. Es ist eine Kugel mit gleichförmiger Volum- oder Flächen-Ladung.

Die Hypothese F ist dabei als Bedingungsgleichung im Sinne der Hertzschen Mechanik aufzufassen. Sie nötigt keineswegs dazu, von Kräften zu reden, welche die Volumelemente des Elektrons zusammenhalten; im Gegenteil, sie besagt, dass solche Kräfte niemals Arbeit leisten können, und macht daher die Einführung solcher Kräfte überflüssig.

Auf Grund der Hypothesen A, B, C, D, E, F lässt sich die Dynamik eines Elektrons beliebiger Gestalt rein elektromagnetisch entwickeln. Das Verhalten des Elektrons im einzelnen aber ist wesentlich von seiner Form abhängig. Ich habe die Untersuchung auch auf ellipsoidische Elektronen von unveränderlicher Gestalt ausgedehnt; es ergab sich, dass die Translationsbewegung eines solchen Elektrons nur in Richtung der grossen Achse stabil ist. Ein abgeplattetes Rotationsellipsoid kann sich nicht parallel der Rotationsachse bewegen; der kleinste Anstoss würde es zum Umschlagen bringen.

Auf Grund der Hypothesen A bis G habe ich die elektromagnetische Bewegungsgrösse des Elektrons berechnet. Ich habe allgemein gelehrt, aus dieser die elektromagnetischen Massen, die longitudinale und die transversale, abzuleiten. Die für die letztere erhaltene Formel stellt die Ablenkungsversuche Kaufmanns mit befriedigender Genauigkeit dar.

Nun steckt sich aber die Elektronentheorie ein weiteres Ziel; sie beansprucht, die elektrischen und die optischen Eigenschaften der Körper in ihrer Gesamtheit zu umfassen. Die Optik durchsichtiger, der Maxwellschen Relation genügender Körper wird in die Elektronentheorie durch Annahme quasielastischer Kräfte eingeordnet, welche die Elektronen in ihre Gleichgewichtslagen zurückziehen. Die Dispersion der Körper wird durch Einführung der trägen Masse der Elektronen gedeutet, welche im Verein mit jenen quasielastischen Kräften die Existenz von Eigenschwingungen bedingt. Das schwingende Elektron stellt das einfachste Bild eines leuchtenden Punktes dar; der Zeeman-Effekt in seiner normalen Form zeigt, dass dieses Bild für eine grosse Zahl von Spektrallinien der Wirklichkeit entspricht. Die Geschwindigkeit der Elektronenschwingungen ist dabei so gering, dass die Veränderlichkeit der Masse nicht in Betracht kommt. Die Hypothesen E, F, G kommen daher nicht ins Spiel, solange als der Körper selbst ruht.

Anders liegt die Sache in der Optik bewegter Körper. Die Aberrationserscheinungen zeigen, dass das universelle Bezugssystem (vergl. A) die Umlaufsbewegung der Erde um die Sonne nicht mitmacht. Wie kommt es, dass trotzdem die elektrischen und optischen Vorgänge, die sich an der Erdoberfläche abspielen, keinen Einfluss der Erdbewegung erkennen lassen? Diese Frage hat H. A. Lorentz untersucht. Er hat gezeigt, dass das Fehlen eines Einflusses erster Ordnung in dem Quotienten β=10-4 aus Erdgeschwindigkeit und Lichtgeschwindigkeit mit den Grundhypothesen A bis D der Elektronentheorie sehr wohl vereinbar ist.[1]

Das negative Ergebnis von Versuchen, deren Empfindlichkeit geeignet war, einen Einfluss zweiter Ordnung zu entdecken, bereitet der Elektronentheorie bedeutende Schwierigkeiten. In zwei Arbeiten[2] hat H. A. Lorentz diese Schwierigkeiten zu überwinden gesucht. In der zweiten der zitierten Arbeiten stellt er ein System von Hypothesen auf, welches geeignet ist, von allen negativen Versuchsergebnissen Rechenschaft zu geben:

H. Infolge der Erdbewegung erfahren die Körper eine gewisse Kontraktion parallel der Bewegungsrichtung.

Diese Hypothese erklärt das negative Resultat des Interferenzversuches von Michelson. Sie erklärt auch das Fehlen eines Kräftepaares auf einen schief zur Bewegungsrichtung der Erde gestellten geladenen Kondensator, das Trouton und Noble vergebens zu entdecken versucht haben.

Man kann die Hypothese H plausibel machen, indem man die Molekularkräfte als elektrische Kräfte deutet.

I. Die quasielastischen Kräfte, welche die Elektronen an ihre Gleichgewichtslagen binden, erfahren infolge der Erdbewegung die gleiche Änderung, wie die elektrischen bezw. die molekularen Kräfte.

Die Hypothese I kann man gleichfalls plausibel machen, indem man die quasielastischen Kräfte ihrerseits als elektrische Kräfte betrachtet.

Um das Fehlen einer durch die Erdbewegung bedingten Doppelbrechung im Ruhezustande isotroper Körper, welches die Versuche von Lord Rayleigh und D. B. Brace ergeben haben, zu erklären, genügt es für solche Körper, welche der Maxwellschen Relation genügen, zu den Hypothesen A, B, C, D, H die Hypothese I hinzuzufügen. Für dispergierende Körper hingegen, bei denen die Trägheit der Elektronen ins Spiel kommt, ist eine Doppelbrechung infolge der Erdbewegung nur dann ausgeschlossen, wenn die longitudinalen und transversalen Trägheitskräfte in derselben Weise abgeändert

  1. H. A. Lorentz, Theorie der elektrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern. Leiden 1895.
  2. H. A. Lorentz, K. Akad. van Wetensch. te Amsterdam 1899, S. 507 und 1904, S. 809.
Empfohlene Zitierweise:
Max Abraham: Die Grundhypothesen der Elektronentheorie. S. Hirzel, 1904, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Grundhypothesen_der_Elektronentheorie.djvu/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)