Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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sollte. Er selbst ging augenblicklich, seine Waffen ergreifend, auf und davon, quer durch das Land, und ruhte nicht, bis er die finstere Stadt Ruechenstein erblickte.
Dort hatten sie nicht lange Spaß gemacht, sondern nach wenig Tagen die Küngolt, die im kalten Thurme saß, zum Tode verurtheilt, und zwar wegen ihres unbescholtenen Vaters, der für das Vaterland gefallen sei, aus besonderer Milde zum Tode durch Enthauptung, statt durch Feuer oder Rad oder eine andere ihrer üblichen Praktiken.
Sie wurde demgemäß zum Thore hinausgeführt nach dem Richtplatze, barfüßig und mit nichts als dem Armensünderhemde bekleidet, Nacken und Rücken von dem schweren flatternden Haare bedeckt. Schritt für Schritt ging sie ihren Todespfad, inmitten ihrer Peiniger, zuweilen strauchelnd, aber gefaßten Muthes, da sie sich ergeben und aller weiteren Lebens- und Glückeshoffnung entschlagen hatte. „So kann es Einem ergehen!" dachte sie mit einem fast merklichen Lächeln, und erst als sie plötzlich wieder an Dietegen dachte, entfielen ihren Augen süße Thränen; denn sie bedachte auch, daß er ihr sein blühendes Leben danke, und sie fühlte sich durch dieses Erinnern getröstet, so selbstlos und gut war ihr Herz geworden.
Schon saß sie auf dem Stuhle und war gewissermaßen
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/370&oldid=- (Version vom 31.7.2018)