Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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ster! Weil er nicht weiß, daß alles vergangene und gegenwärtige Glauben und Wissen von göttlichen Dingen nur Eine zusammenhängende, große und tiefe Wissenschaft bildet, die fortlebt und verwaltet werden muß von denen, die es gelernt haben und verstehen. Weil er endlich nicht weiß, daß er in der bitteren Stunde seines Todes nach unserem Beistande schmachten und des geheimnißvollen Trostes des Tabernakels bedürftig sein wird!
Aber jetzt ist er noch in Selbstsucht und Dünkel befangen. Weil er frei und ungehindert ist durch unser Verdienst, so verschmäht er es voll Undank, an unserem Zusammenhalte gegen die Gewalt der Finsterniß und der Lüge Theil zu nehmen, den Kampf des Lebens gemeinschaftlich mit uns zu kämpfen, unsere Freude zu der seinigen zu machen und, indem er sich einen Christen nennt, den Altar mit uns zu zieren! Da geht er denn nun so hin, der Dieser und Jener, der Gleichgültling, der Indifferent ist [sic! Indifferentist], der Stölzling. Freilich weiß er nicht, wie dürftig und betrübt er uns vorkommt in seiner Sicherheit, die wir ihm freilich nicht mehr nehmen können oder wollen, obgleich er sie nur von uns hat! Freilich weiß er nicht, wie dürr der Pfad ist, auf dem er so dahin wandelt, an welchem keine Sonntagsglocken läuten, auf dem keine Ostern und keine Auferstehung blüht, nicht die
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/451&oldid=- (Version vom 19.5.2019)