Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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die aber gleichzeitig bemerkte, daß in dem wohleingerichteten Zimmer, wo die ganze Familie sich eben befand, das Clavier und die Spiegeltische mit Staub bedeckt waren; und unverweilt begann sie, denselben mit ihrem Schnupftuche abzuwischen.
Die Familie entschloß sich zu der strengen, gegen sich selbst harten Handlungsweise und blieb in Frieden und Ansehen. Der freie Grundbesitz wurde verpfändet und der Geschäftsverkehr nicht unterbrochen; allein zur Zeit waren alle Glieder des Hauses arm, wie die Kirchenmäuse, und keines hatte einen Franken für etwas Unnöthiges oder für eine Liebhaberei auszugeben.
So fiel auch die Vorsteherschaft und der Glanz Justinens in Kirche und Gesellschaft dahin und sie hielt sich still und beschämt im Verborgenen. Sie ertrug aber diese gänzliche Mittellosigkeit nicht und verschaffte sich im Geheimen, nach Art verarmter Frauen aus der oberen Schicht, allerlei feine weibliche Handarbeit, um einiges Taschengeld zu verdienen. Sie wußte dabei nicht, daß sie der ganz hülflosen Wittwe, der verlassenen Waise, die sich auf gleiche Weise kümmerlich nährte, das Brod vor dem Munde weg nahm, um ihrem Triebe nach Besitz genug zu thun. Je merklicher sich die bescheidenen Geldsümmchen vermehrten, welche sie so erwarb, desto eifriger und fleißiger war sie bei der Arbeit, die sie mit ihrer
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/487&oldid=- (Version vom 31.7.2018)