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ihre lange goldene Lorgnonkette durch die behandschuhten Finger, „ich bin erst heute früh hier eingetroffen. Ich reiste Ihnen nach, traf Sie aber nicht mehr in Kopenhagen an. Dann wurde mir dort auf geheimnisvolle Weise ein Zettel mit der Mitteilung zugesteckt, Sie befänden sich in Stockholm. Als ich hier angelangt war und beim Frühstück im Wartesaal des Hauptbahnhofs die hiesigen Morgenzeitungen durchsah – ich spreche das Schwedische recht fließend –, fand ich den Artikel über die Ermordung Blombergs durch Palperlon und die –“

Harst hatte eine liebenswürdige Handbewegung gemacht und sagte jetzt: „Gnädige Frau, Sie sind recht erschöpft. Bitte strengen Sie sich durch weitläufige Ausführungen nicht noch mehr an. – Sie gestatten, daß ich frage. Dann kommen wir sicher schneller zum Ziel. – Sie haben sich auf der Polizei nach meiner Adresse hier erkundigt, nicht wahr? Wann waren Sie auf der Polizei, und wen sprachen Sie dort?“

„Gegen neun Uhr. Kriminalinspektor Brodersen war so freundlich, mir –“

„Danke. – Haben Sie ein besonders Interesse an Blombergs Ermordung, gnädige Frau?“[1]

„Ja. Weniger freilich an dem Morde selbst, als an –“

„– Palperlon!“ vollendete Harst.

Ich sah, wie die Züge der Dame sich jäh veränderten. Sie erstarrten gleichsam in einem Haß, der ohne Maß und Ziel sein mußte.

Harst betrachtete Frau Theresa Knork genau so aufmerksam wie ich, merkte, wie sie jetzt vor Erregung kein Wort über die bebenden Lippen brachte, und sagte leise und in seinem einschmeichelndsten Tonfall:

„Bitte – bitte, beruhigen Sie sich! Ich ahne bereits so manches. Sie haben eine Tochter, gnädige Frau, und diese Tochter dürfte Ihnen durch Palperlon entfremdet worden sein.“

Da schnellte sie förmlich hoch, streckte die Arme aus, keuchte hervor:

„Entfremdet?! Nein – gestohlen hat er sie mir! Und jetzt ist auch noch mein Mann verschwunden!“

Aufschluchzend sank sie wieder in den Sessel zurück, schlug die Hände vor ihr plötzlich von Tränen überströmtes Gesicht und wimmerte:


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Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Die Rätselbrücke. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_R%C3%A4tselbr%C3%BCcke.pdf/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)