Beobachter“[1]). Darin ist schon eingeschlossen, dass jene Verkürzung für den nicht mitbewegten Beobachter nicht etwa nur ‚Schein‘ ist, und damit sind auch von der modernen Physik die Sinne wieder in ihre Rechte eingesetzt, was im Altertum Protagoras leider vergeblich versucht hatte.
Wie keiner der beiden Beobachter von seiner Wahrnehmung sagen darf, sie sei nur ‚Schein‘, so darf das auch keiner der beiden von der Beobachtung des anderen behaupten. Es wäre also erkenntnistheoretisch unhaltbar, wenn der ‚ruhende‘ Beobachter sagen wollte: ‚der sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit an mir vorüberbewegende Körper ist verkürzt, dem mitbewegten Beobachter scheint er aber nicht verkürzt zu sein‘ — und entsprechend umgekehrt. Denn damit würde jeder die der seinigen gleich berechtigte Beobachtung des anderen herabsetzen.
Wer das sinnlich Beobachtete nur für ‚Schein‘ oder ‚Erscheinung‘ erklärt, der stellt sich damit auf den Boden der Lehre vom ‚Ding an sich‘, das hinter den ‚Erscheinungen‘ steckt. Tut das der Naturforscher, so darf er sich nicht mehr wundern, wenn der idealistische Philosoph meint, die Naturwissenschaft hafte nur am Aeusserlichen, zuletzt am Nebensächlichen, und dann nach Platonischem Muster die Wahrheit ausserhalb der Erfahrung, in der Metaphysik sucht.
35. Wir stehen hier am Grenzwall zweier Weltanschauungen. Es ist nicht möglich, die Relativitätstheorie für beide in Anspruch zu nehmen. Sie ist aus dem Gedankenkreise des relativistischen Positivismus heraus erwachsen (s. o. § 1 ff.), und ihr Gewicht kann auch nur zu dessen Gunsten in die Wagschale fallen. Diejenigen Physiker und Mathematiker, denen das noch unsympathisch ist und die doch ein begründetes Urteil darüber abgeben wollen, müssen die hauptsächlichen Begriffe und Sätze jener Anschauung prüfen und sich fragen, ob die Lehren der neuen Theorie sich widerspruchsfrei ihnen einfügen oder nicht. Wer dann nicht darüber hinwegkommen kann, dass die anfangs so paradoxen Aenderungen der Körpergestalt und des Uhrgangs als ‚wirklich‘ bezeichnet werden müssen in demselben Sinne, wie nur sonst etwas als ‚wirklich‘ gilt — vorausgesetzt immer wieder, dass die neue Lehre, so wie sie vorliegt, in ihren Hauptzügen haltbar ist —, der muss eben die Theorie fallen lassen: an ihr festhalten wollen und jene Aenderungen doch zugleich nur für ‚scheinbare‘ ausgeben, das ist auf die Dauer unerträglich und widerspricht dem Geiste der Naturwissenschaft, der für jeden ihrer Sätze erfahrungsgemässe Begründung und logische, d. h. widerspruchsfreie Verknüpfung mit allen übrigen haltbaren Sätzen verlangt. Gewiss ist es keine geringe Anforderung, sich von der mechanischen oder von der idealistischen Auffassung oder von den wunderlichen Mischungen beider, auf die man nicht selten stösst, oder überhaupt sich vom Absoluten in jeder Gestalt gänzlich frei {{Zitierempfehlung|Projekt=Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914|Seite=4
- ↑ Einstein, „Zum Ehrenfestschen Paradoxon. Bemerkung zu V. Varićaks Aufsatz. Physikal. Zeitschr. 12, 1911, S. 509 f.