zu machen, aber es ist geschichtlich notwendig: die physikalisch-chemischen und die biologischen Wissenschaften sind auf einem Punkt angelangt, an dem es für die gesunde Weiterentwicklung nicht mehr gleichgültig sein wird, welcher Weltanschauung der Forscher huldigt, ob er sich ganz von der Metaphysik befreit und weder den Beobachtungen noch den Begriffen und Gesetzen unerfahrbare Dinge unterschiebt, oder ob er nicht zu diesem Standpunkt zu gelangen vermag.
Ein helles Licht fällt auf den erkenntnistheoretischen Hauptinhalt der Relativitätstheorie und überhaupt auf die hier erörterte erkenntnistheoretische Lage, wenn wir einen Blick auf verwandte eigentümliche Vorgänge im Sehraum richten, auf die perspektivischen Gestaltänderungen der Körper. An seiner Beurteilung dieser wohlvertrauten Vorgänge kann jeder leicht sehen, welche Stellung er zur Relativitätstheorie einzunehmen hat, denn in beiden Fällen muss es im Grunde dieselbe sein. Die Gestalten der Körper, die wir in unserem Sehraum beobachten, hängen von der Lage ab, die sie zu uns haben: entfernen sie sich von uns oder wir uns von ihnen, so schrumpfen sie, nähern sie sich uns oder wir uns ihnen, so schwellen sie an usw. — immer ist die relative Lage oder die relative Bewegung massgebend, wie bei den Gestaltänderungen der Relativitätstheorie. Auch hier kommen jedem Körper in jedem Moment, je nach dem Bezugssystem, zahllose Gestalten zu; auch hier erfährt der ‚mitbewegte‘ Beobachter keine Aenderung; und auch hier erhebt sich die Frage: sind jene Aenderungen ‚wirklich‘ oder nur ‚scheinbar‘?
Ein vortrefflicher Prüfstein! Gewöhnlich aber ein klassischer Fall zur Veranschaulichung der ungeheueren Macht des Vorurteils, der Festigkeit altgewohnter Gedankengänge, der Stabilität geübter biologischer Prozesse des Zentralnervensystems!
Für den relativistischen Positivismus kann die Antwort keinen Augenblick lang zweifelhaft sein. Alle jene sogenannten perspektivischen Verschiebungen sind ‚wirklich‘, wie nur irgend ein Erlebnis ‚wirklich‘ ist. Dagegen sind die starren Körper, als deren perspektivische Verschiebungen jene Aenderungen bezeichnet werden, nicht ‚wirklich‘, weil sie in keiner Erfahrung gegeben sind. Weder für das Auge noch für die tastende Hand ist in den betreffenden gesehenen und getasteten Körpern, die wir als Kugel, Rotationsellipsoid, reguläres Tetraeder, Würfel usw. bezeichnen, jemals eines dieser mathematischen Gebilde aufweisbar. Noch niemand hat einen der mathematischen Definition entsprechenden Würfel — sechs kongruente auf einander senkrecht stehende Quadrate, an den acht Ecken je drei rechte Winkel usw. — wirklich gesehen oder auch nur in Gedanken vorgestellt. Jene Gebilde der Mathemathik sind überhaupt nicht anschaulicher, sondern lediglich begrifflicher Natur, keine ‚wirklichen‘, sondern nur ‚Gedankendinge‘, nur ‚Hilfsmittel des Denkens‘, um die Fülle jener wirklichen gesehenen und getasteten Dinge zu beherrschen, sich mit ihrer erdrückenden Ueberzahl und Mannigfaltigkeit ins Gleichgewicht zu setzen. Sie spielen hier
Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/44&oldid=- (Version vom 6.6.2024)