erkenntniskritischen. Von Kant unbefriedigt, hatte er sich zu Berkeley gewandt, dessen Aufhebung der materiellen Substanz einer der wichtigsten Marksteine in der Geschichte des menschlichen Denkens überhaupt ist. Sie war ihm offenbar im höchsten Masse willkommen. Hier such liegt der Punkt, an dem sich Machs Hauptleistungen in den grossen erkenntniskritischen Prozess einreihen, der sich seit Descartes abgespielt hat. Wenn er einmal sagt: „Die Wissenschaft ist fast mehr durch das gewachsen, was sie zu ignorieren verstanden, als durch das, was sie berücksichtigt hat[1]), so trifft das auch auf seine Abneigung gegen alle Metaphysik und Mystik zu, mag sie in noch so exaktem Gewande auftreten. Hier ist die Quelle für seine Freiheit von Vorurteilen und damit auch die Quelle für seine Relativitätstheorie und für die Relativitätstheorie überhaupt.
Was man an Einsteins Lehre — von ihrer Anschauung über die Zeit jetzt abgesehen — so paradox findet: dass einem Körper ‚gleichzeitig‘ unendlich viele Gestalten — und jede mit gleichem Rechte — zukommen, und dass diese Gestalten nur von der Relativbewegung der Bezugssysteme zueinander abhängen, das ist auf diesem Boden als erkenntnistheoretisch durchaus zulässig leicht einzusehen. Denn Mach hat einen sehr freien Körperbegriff aufgestellt, der noch erheblich weiter reicht als der der neuen Lehre. Er sagt: „Es ist bekannt, welche Schwierigkeiten die actio in distans sehr bedeutenden Denkern verursacht hat. ‚Ein Körper kann nur da wirken, wo er ist‘. Es gibt also nur Druck und Stoss, keine Fernwirkung. Aber wo ist ein Körper? Ist er nur dort, wo wir ihn tasten? Kehren wir die Sache um! Ein Körper ist dort, wo er wirkt. Er nimmt einen kleinen Raum ein für das Getast, einen grösseren für das Gehör, einen noch grösseren für das Gesicht. Wie käme der Tastsinn dazu, uns allein zu diktieren, wo ein Körper ist“[2])? Und ganz im Sinne Humes, den Mach aber damals noch nicht kannte: „Uns Naturforschern ist der Begriff ‚Seele‘ mitunter anstössig und wir lächeln darüber. Der Stoff ist aber eine Abstraktion ganz derselben Art, so gut und so schlecht wie die erstere. Wir wissen vom Stoff so viel wie wir von der Seele wissen. Wenn wir Sauerstoff und Wasserstoff in einer Endiometerröhre explodieren lassen, so verschwinden die Sauerstoff- und Wasserstofferscheinungen, und es treten dafür die Wassererscheinungen auf. Nun sagen wir, Wasser besteht aus Sauerstoff und Wasserstoff. Dieser Sauerstoff und Wasserstoff sind aber nichts als zwei beim Anblick des Wassers parat gehaltene Gedanken oder Namen für Erscheinungen, die nicht da sind, die aber jeden Augenblick wieder hervortreten können, wenn wir das Wasser zerlegen, wie man sich auszudrücken beliebt. Es ist mit dem Sauerstoff ganz so wie mit der latenten Wärme. Beide können hervortreten, wo sie im Augenblick noch nicht bemerkbar sind. Ist die latente Wärme
Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/5&oldid=- (Version vom 6.6.2024)