kennen auch heute noch die uralte germanische Scheu vor der Götterwelt: wie ehedem der Verkehr mit den Göttern in heiliger Stille vor sich ging, so stellt auch noch die Sage an denjenigen, der etwas besonderes vornehmen, z. B. einen Zauber ausführen, einen Schatz heben will, die Forderung lautloser Stille.
Das alles übte auf das Vorstellungs-, Gemüts- und Willensleben des Menschen einen tiefen Eindruck. Man blickte in sein eigenes Innere und lernte damit den Wert auch eines fremden Seelenlebens, einer fremden Persönlichkeit schätzen, wo sie sich der Erfurcht wert zeigte. Daher die hohe Stellung der Frau im Sagenleben, die hohe Weihe des ehelichen Bundes. Am ergreifendsten tritt die Achtung vor dem fremden Leben in der deutschen Sage dann hervor, wenn sie heischt, aus Achtung vor der fremden Seele den eigenen Schmerz zu bändigen.
Die Innigkeit und Zartheit, welche auf dem Grunde seines Gemüts unter rauher Hülle ruhte, trug der Germane auch in die Natur: Tiere, Pflanzen, und selbst in die unorganische Natur hinein.
Aus der Selbsttreue und stolzen Bewahrung der eigenen Persönlichkeit einerseits, aus der Achtung und herzlichen Einfalt vor dem fremden Seelenleben andererseits ging dasjenige hervor, was der eigentliche Maßstab der Sittlichkeit eines jeden und der Gesammtheit ist, das Gewissen. Mit beständigem Nachdruck hebt, wie schon erwähnt ist, die deutsche Sage überall hervor, daß jedem Unrecht seine Strafe folgt.
Die deutsche Sage hat ritterlichen Sinn, Treue und Ehre hält sie allezeit hoch. Darum die noch junge Sage von Küstrin, das von der hohenzollernschen Familie wegen der Treulosigkeit der Bewohner im Jahre 1806 ff. seit jener Zeit gemieden werde; darum die Sage von dem Fluch über das Lügenfeld bei Tann im Elsaß, wo durch Lothars Schlangenworte und teuflisches Gold Ludwig der Fromme von seinem Heere verraten wurde. Königs- und Mannentreue steht in der Sage hoch erhaben da. Roland geht für seinen Herrn im Tale zu Ronceval treu in den Tod; Froben veranlaßt auf treulistige Weise den großen Kurfürsten, ein anderes Roß zu besteigen, und findet auf dem des Kurfürsten den sicheren Untergang; der lippische Graf ist von den Feinden gefangen worden, die Bürger seiner treuen Stadt
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/28&oldid=- (Version vom 31.7.2018)