erschien der Erlenkönig dem Sohne. „Kind“, sagte er, „dein Vater hat meinen Sohn getötet; nun mußt du mit, um mein Sohn zu sein, sonst töte ich dich.“ Der Junge barg sich am Herzen des Vaters. „Vater“, rief er, „der Erlenkönig muß mich haben oder er tötet mich!“ – Der Kleine schlummert und träumt, dachte der Vater und antwortete nicht. Er ritt weiter. Alsbald stand der Erlenkönig wieder vor dem Knaben. „Liebes Kind“, sprach er, „komm mit mir! Du darfst auf meinem Throne sitzen. Willst du nicht, dann töte ich dich, weil dein Vater meinen Sohn getötet hat.“ Der Kleine war noch ängstlicher und klammerte sich an den Vater. „Vater“, stöhnte er, „der Erlenkönig will mich töten.“ „Fürchte dich nicht“, antwortete der Ritter, „ich bin stark und will dich schützen.“ Und er drückte den Sohn an seine Brust. Wieder kam der Erlenkönig; er war zornig und wollte das Kind aus des Vaters Armen reißen. Der Kleine war zu Tode erschrocken. „Vater, Vater“, wimmerte er, „der Erlenkönig will mich töten!“ Der Ritter zog sein Schwert und schlug. Hatte er den Feind getroffen? Er sah ihn nicht. Und der Knabe wimmerte immer weiter. Der Ritter gab seinem Pferde die Sporen und jagte eilig nach seinem Schlosse. Schon erblickte er die Mauern und Türme und meinte, frei zu sein, als das Kind auf einmal einen schrecklichen Schrei ausstieß. Der Vater sah hin. Ach, er hielt nur noch eine Leiche in seinen Armen! – Seitdem scheuen sich die Kinder im flachen Lande, einen Erlenzweig abzubrechen; der Erlenkönig könnte sie, wie des Ritters Söhnchen, töten.
Soweit die Sage. Sie enthält alle Züge des Goetheschen Gedichts, sucht darüber hinaus auch noch den Zorn des Erlenkönigs durch das Abbrechen des Erlenzweiges zu erklären. Einmal ist nun aber die Sage in weiteren Kreisen der Provinz Antwerpen nicht bekannt und zum anderen enthält sie auch einen Fehler, den genau so das Goethesche Gedicht enthält. Herder hatte nämlich irrtümlich den dänischen „Ellerkonge“ = „Elverkonge“ = „Elfenkönig“ mit Erlkönig übersetzt und Goethe nahm diesen Ausdruck unbesehen herüber. Schon dadurch wird bewiesen, daß der vlämische „Elzenkoning“ oder „Koning van het Elzenhout“ nicht auf eine vorgoethesche Überlieferung zurückgeht, sondern daß er eine Nachahmung des Goetheschen Erlkönig ist.
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/38&oldid=- (Version vom 31.7.2018)