Seite:Die Sage-Karl Wehrhan-1908.djvu/47

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Rundgange um ein Uhr verschwunden war. Als er in der folgenden Nacht dasselbe sah, machte er dem Pfarrer Mitteilung, der in der dritten Nacht an das Fenster des geheimnisvollen Hauses trat und darin ein kleines Männlein erblickte, das ihm zuwinkte, einzutreten. Nachdem er der Aufforderung gefolgt war, führte ihn das Männlein an eins der drei Fenster, durch das er auf ein Weizenfeld von nie gesehener Fruchtbarkeit blickte; ans zweite Fenster geleitet, sah er auf ein großes Schlachtfeld mit Haufen von Leichen und Strömen von Blut; sich schaudernd abwendend, erkannte er in dem dritten Fenster das Bild des ersten wieder, das Feld war jedoch halb abgemäht, aber auf dem ganzen Felde war nur ein Mensch. Darauf verschwand alles und in den folgenden Nächten war keine Erscheinung mehr wahrzunehmen.

Ähnliche oder gleiche Sagen waren aber nicht unbekannt. Im Anfang des Jahres 1832 begegneten[1] nach Sonnenuntergang einem Förster im Hartwalde bei Karlsruhe drei weiße Gestalten, von denen die erste sprach: „Wer wird all das Brot essen, das es dieses Jahr gibt?“ die zweite: „Wer wird all den Wein trinken, der dieses Jahr wächst?“ die dritte: „Wer wird all die Toten begraben, die dieses Jahr sterben?“

Eine ganz ähnliche und doch verschiedene Sage berichtet schon Grimm[2] aus dem 17. Jahrhundert: „Im Jahre 1686 am 8. Juni erblickten zwei Edelleute auf dem Wege nach Chur in der Schweiz an einem Busch ein kleines Kind liegen, das in Linnen eingewickelt war. Der eine hatte Mitleiden, ließ seinen Diener absteigen und das Kind aufheben, damit man es ins nächste Dorf mitnehmen und Sorge für es tragen könnte. Als dieser abgestiegen war, das Kind angefaßt hatte und es aufheben wollte, war er es nicht vermögend. Die zwei Edelleute verwunderten sich hierüber und befahlen dem andern Diener, auch abzusitzen und zu helfen. Aber beide mit gesamter Kraft waren nicht so mächtig, es nur von der Stelle zu rücken. Nachdem sie es lange versucht, hin und hergeschoben und gezogen, hat das Kind angefangen zu sprechen und gesagt: „Lasset mich liegen, denn ihr könnt


  1. Mone’s Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters. IV. 1835. S. 307.
  2. Deutsche Sagen. 3. Aufl. Berlin 1891. Nr. 14. S. 10 (nach Bräuners Curiositäten 274).
Empfohlene Zitierweise:
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/47&oldid=- (Version vom 31.7.2018)