Auch die Hartwaldsage paßt in diesen äußeren Rahmen, wenn auch einige Züge fehlen. Die Julirevolution 1830, das verheerende Auftreten der furchtbaren Cholera 1831 und 1832, die in jener Zeit selbst in höheren Kreisen allgemein verbreitete Furcht vor einer Vernichtung aller Kultur und Zivilisation: das alles bildet wieder einen natürlichen Hintergrund für eine Neubelebung des alten Gedankens. Auch die Jahre vor 1686 bieten ähnliche Verhältnisse: Nachwehen des 30jährigen Krieges, böse Religionswirren in der Schweiz, Aufhebung des Edikts von Nantes (1685), die Kriege Ludwigs XIV. u. a.
Die drei weißen Jungfrauen der Hartwaldsage sind die Nornen, die altgermanischen Schicksalsgöttinnen; das schwere Kind wird das Christuskind sein; der Untersberg ist der Berg, in dem Kaiser Karl der Große schläft; sobald der Birnbaum zum dritten Male grünt, kommt er hervor und eine ungeheure Schlacht wird geschlagen, bei der ein großes Blutbad angerichtet wird.
Daß Örtlichkeit und Personen ein und derselben Sage in verschiedenen Zeiten und Gegenden wechseln, ist bekannt, so auch hier; auch daß hier und da einzelne Sagenzüge fehlen oder unklar sind, sehen wir an diesen Sagen, bei denen die jüngste, die Anhaltiner Fassung, die treueste und vollständigste Form bietet. Wie ist aber ihr Auftreten zu erklären? Jedenfalls haben die einzelnen Erzähler nichts von einander gewußt, sicherlich auch nicht der Anhaltiner von dem Schweizer oder umgekehrt. Auch daß sie alle oder einige doch die Sage erfunden, also gedichtet hätten, ist höchst unwahrscheinlich. Die Antwort kann nur in folgendem gefunden werden:
Durch die obwaltenden Zeitverhältnisse wird eine alte, besonders in ihren Einzelheiten fast vollkommen vergessene Sage in ihrem Hauptgedanken Vollkommen neu belebt, dessen Einkleidung aus eigener Phantasie dann völlig neu geschaffen oder doch erheblich ergänzt wird. So sind die oben angeführten Sagen unbewußte Umbildungen alter in den betreffenden Gegenden ursprünglich heimischer Formen, für die man zweifelsohne eine gemeinsame Urform annehmen kann. Der Hauptgedanke einer Sage geht nicht so leicht im Volke verloren, wenn diese auch von der großen Menge vollständig vergessen ist. Es ist ganz natürlich, wenn eine
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/49&oldid=- (Version vom 31.7.2018)