Sage nur von wenigen noch gekannt wird, wird sie auch nur wenigen mitgeteilt; es ist sogar der Fall denkbar, daß schließlich nur noch eine Person Kenntnis davon hat, und wenn diese stürbe, so wäre sie in der Tat für immer verloren, wenn sie sie nicht weiter mitgeteilt hat. Unter Umständen kann eine Sage Generationen hindurch an eine oder wenige Personen gebunden sein, bis sie bei geeigneter Gelegenheit wieder aus der Stille hervorgeholt und in neuem Kleid auftritt, an dem uns die Hauptteile an die frühere Form erinnern, während ihm die allzeit schaffende Phantasie einen neuen Zuschnitt gegeben hat. So haben wir eine Erklärung dafür, daß eine Sage, welche unbestimmt lange Zeiten hindurch wie im Unbewußten der Volksseele schlummerte, plötzlich bald hier, bald da in das lebhafteste Bewußtsein tritt, um dann nach kurzer Zeit wieder zu verschwinden und zu anderer Zeit, an einem anderen Orte, in anderer Gestalt wieder zu erscheinen[1]. Es ist dieselbe Sage, derselbe Volksgedanke in immer anderer Gestalt, der so Jahrhunderte oder Jahrtausende hindurch ein periodisches Leben führt.
Das Verhältnis von Sage und Geschichte ist schon öfter der Angelpunkt von Streitigkeiten gewesen, vor allem, wenn es sich um eine besondere Tatsache handelte, die von dem einen als Sage, von dem andern als Geschichte aufgefaßt wurde. Und doch müssen wir daran festhalten, daß Sage und Geschichte nicht nebeneinander, sondern einander gegenüber stehen. Wo das Gebiet der Geschichte beginnt, hört das der Sage auf, denn diese ist nicht durch beglaubigte Zeugen und Urkunden überkommene Geschichtserzählung. Die Geschichte kann nur nackte Tatsachen berichten, ihr fehlt aber der warme Hauch, da sie jenen kühl bis ans Herz gegenüber stehen soll. Doch gebrauchen wir lieber einige Vergleiche: Die Geschichte ist mehr Leib, die Sage mehr Seele; die Geschichte gleicht dem klaren Sonnenlicht, die Sage dem blauen Duft weiterer Entfernung; die Geschichte ist die bis
- ↑ Daß es auch mit Anekdoten so ist, dafür gibt Steinthal a. a. O. S. 314, 315 einige Beispiele.
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/50&oldid=- (Version vom 31.7.2018)