in die kleinsten Kleinigkeiten exakte Photographie, die Sage ein vor allem das Charakteristische betonendes Kunstwerk; die Geschichte gibt nackte Tatsachen, die Sage die Schlagschatten und Schlaglichter; die Geschichte gleicht den näheren klargesehenen Gegenständen der menschlichen Umgebung, die Sage dem in bräutlich-weißen Nebelschleier gehüllten Bergzuge oder auch Tale – einfacher: die Geschichte ist prosaisch, die Sage poetisch. Die Sage klammert sich dabei an gegebene Tatsachen an, mischt aber oft allerlei in einen Topf, was nicht zusammengehört, so z. B. sind in den verschiedenen Kaisersagen (von Karl dem Großen, Friedrich Barbarossa u. a.) die Orte der Sage durcheinander geworfen, so daß von den einzelnen Bergen (Kyffhäuser, Untersberg in Tirol, Desenberg bei Warburg, Arminiusburg bei Schieder u. a.) Sagen erzählt werden, die ursprünglich nur einem von ihnen zukamen. So werden auch die Personen verwechselt, wie z. B. in denselben Sagen Friedrich Barbarossa mit Hermann dem Cherusker, Karl dem Großen u. a.
Die Ursache für diese Erscheinung ist darin zu suchen, daß von der Geschichte nur eine wichtige Tatsache in der Erinnerung des Volkes zurückgeblieben, ihr geschichtlicher Grund aber verschollen ist; deshalb wurde sie den inzwischen veränderten Zuständen nach neu begründet. So kann aus der Geschichte eine Sage werden. Wenn nun der Ursprung einer Sage auch geschichtlich ist, so ist ihre weitere Entwicklung aber poetisch. Diese dichterische Weiterführung versetzt uns bis in eine Zeit zurück, in der die Menschen noch ohne Schrift waren und als Gedächtnisstütze die Form der gebundenen Rede wählten, um die bewußten Erzählungen zu überliefern. Dabei konnte es dann nicht ausbleiben, daß sich auch berufsmäßige Dichter fanden, die absichtliche Abänderungen, wie Ein- und Verschiebungen, Ausschmückungen u. dergl. vornahmen. Vor allem wurde dann die Sage gefördert durch den Glauben des Volkes an das Übernatürliche. Daher ist der Sage nichts zu wundersam, sie glaubt an ihre innere Wahrheit steif und fest, und weil sie noch an Wunder glaubt, kann sie noch Wunder schaffen. Sie verfolgt dabei einen ästhetischen Zweck, wenn auch mehr oder weniger unbewußt; wie sich der Epheu an Trümmer schmiegt, diesen einen lebenden Teppich, ein grünes Kleid, einen schützenden Mantel gibt, so rankt sich auch die Sage an hohen Gestalten, großen
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/51&oldid=- (Version vom 31.7.2018)