Wie unverbrüchlich sehen wir das Volk an seinen eingeerbten und hergebrachten Sagen haften, die ihm in rechter Form nachrücken und sich an alle seine vertrautesten Begriffe schließen. Niemals können sie ihm langweilig werden, weil sie ihm kein eitles Spiel, das man einmal wieder fahren läßt, sondern eine Notwendigkeit scheinen, die mit ins Haus gehört, sich von selbst versteht, und nicht anders, als mit einer gewissen, zu allen rechtschaffenen Dingen nötigen Andacht, bei dem rechten Anlaß, zur Sprache kommt“. So ist die Sage für das Volk Geschichte.
Die Sage mischt Dichtung und Wahrheit ineinander, und darum hat man gesagt, sie habe nur Wert für den Geschichtsforscher, würde aber in die Köpfe anderer, besonders auch der Schüler, Unklarheit und Verwirrung bringen. Einerseits sind nun aber Kinder keine Maschinen, die nur mechanisch arbeiten und sich nicht entwickeln können, andererseits werden die nackten historischen Wahrheiten durch Übersehen der sich in den Sagen darstellenden „geistigen Wahrheit“ (Grimm) einseitig eingeschätzt. Die Sage erfaßt stets den Kern der historischen Begebenheiten, die ihnen zu Grunde liegende Idee, die keine Forschung verneinen kann. Wie die Geschichte gleichsam der Tag, die Sage die Dämmerung ist, so bereitet die Sage auf den eigentlichen Geschichtsunterricht vor, sie gibt die Ansätze geistigen Lebens eines Volkes. Ein geistig totes Volk dichtet keine Sagen. Darum gleicht die Sage einem Urwald, dessen Blätter das frischeste Grün zeigen, während die Stämme, die hindurch blicken, davon Zeugnis ablegen, daß er viele Generationen der Menschen kommen und gehen sah und aus den fernsten Urzeiten zu uns herüberreicht. (Schwartz). Diese Erkenntnis wird natürlich allmählich zur Klarheit kommen, besonders dem Schüler.
Und endlich über die eigentliche historische Sage bemerkt E. H. Meyer: Die historische Sage erwuchs aus dem unbezwinglichen Triebe des Volkes, die Geschichte sofort in Sage zu verwandeln, über dieser jene ganz zu vergessen und die verschiedensten Personen und Ereignisse miteinander zu verwechseln und zu verschmelzen und endlich Altmythisches einzumischen. Die Geschichte muß sich dem Mythus fügen; die historische Erinnerung vergeht sehr rasch, sie reicht nicht weit zurück. Viele sogenannte historische Sagen, z. B. die Hunnensagen, sind gelehrten Ursprungs; nur die Kroaten-, Franzosen-
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/53&oldid=- (Version vom 31.7.2018)