Die mächtigen Naturereignisse mußten die Wirkung gewaltiger ungestümer Riesenkräfte sein, und unsere Vorfahren personifizierten diese Kräfte unter dem Namen Riesen, die in gewissem Gegensatz zu den zarteren und sanfteren Elfen stehen. Schon die Griechen und Römer hatten ihre Riesen, die Giganten, Titanen, Kyklopen; die alten Germanen den Riesen Ymir, den Stammvater der übrigen Riesen. Zuweilen haben sie Tier-, meistens aber plumpe Menschengestalt. Wie früher, so erscheinen sie auch noch heute in den Sagen nach der geistigen Seite hin minderwertig, dumm, tölpelhaft, unbeholfen, auch gierig und zornig. Die Riesen sind in den Sagen meistens steinalt, und ihre Taten im allgemeinen den Menschen schädigend. Oft stehen sie mit Bergen in Verbindung; im Wazmann soll der Riese Wazmann, im Pilatus in der Schweiz ein Riese Pilatus hausen; der riesenhafte Berggeist Rübezahl ist im Riesengebirge zu Hause. Auf zwei einander gegenüber liegenden Bergen hausen Riesengenossen, die sich zur Abwechselung mit Felsblöcken bombardieren, aber auch ihre Gerätschaften, Beile, Pflugschar u. a. durch Zuwerfen leihen. Sie erscheinen oft als Baumeister: die Donaubrücke in Regensburg, die Mainbrücke in Frankfurt a. M., der Dom in Köln u. a. sind nach der Sage von Riesen (oder Teufeln, in welche die christliche Zeit jene oft zu verwandeln beliebte) erbaut. Auf irgend eine Weise wird der Riese dabei überlistet. Schon die nordische Mythologie erzählt von einem solchen Riesenbaumeister, der den Göttern eine feste Burg bauen sollte; auch hier wurde der Riese um seinen Lohn gebracht. Bei der Überlistung kräht gewöhnlich der Hahn vor der Vollendung des Werkes, oder das erste vom Teufel (Riesen) ausbedungene Wesen ist irgend ein Tier u. a. m. Anderer ungeschlachter Riesentaten gibt es eine Menge. Die Riesentochter holt nicht nur im Elsaß, sondern auch im Harz und im Odenwalde, den Bauer samt Pflug und Gespann in ihrer Schürze auf das Schloß. Eine andere Riesin liebte einen stattlichen Bauersmann, zerdrückte ihm aber in sanfter Umarmung Rippen und Herz. Der Hügel, auf dem der Ort Leopoldshöhe in Lippe liegt, ist dadurch entstanden, daß ein Riese den ihm etwas unbequem werdenden Sand aus seinem Holzschuh schüttete. Mit Mühlsteinen beworfen, vermeinen die Riesen, es seien nur Sandkörner. Des Teufels Großmutter soll ihnen Gesellschaft
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/74&oldid=- (Version vom 31.7.2018)