Seite:Die Sage-Karl Wehrhan-1908.djvu/83

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Ahnen auch den Wald beleben lassen. Hier wohnen die Waldmännlein und -weiblein oder die Holzmänner und Frauen, die in ihrer Körpergestalt mehr den Zwergen gleichen, doch auch menschliche Gestalt und Riesengröße haben können. Sie werden auch Moosfräulein genannt; Gesicht und Gewand sollen grau oder grün wie Moosrinde sein. Im Voigtlande verkehren sie freundlich mit den Menschen, helfen ihnen Heu machen, Vieh füttern und setzen sich mit zu Tische, doch werden sie auch von unbändiger Wildheit oder auch von trostloser Schwermut beherrscht. Sie leben nach menschlicher Art in ehelichen Verbindungen und wohnen mit ihren Kindern in Klüften oder hohlen Bäumen. Sie baden sich im Wiesentau und trocknen sich mit Moos ab. Wie die Nixen, sind sie im Besitz übermenschlicher Geheimnisse, gehen den Menschen um Essen und allerlei Dienste an, die sie mit später zu Gold werdenden Spänen oder dergleichen belohnen. Wie die weiblichen Nixen, so gehen auch die Holzfräulein Liebesverhältnisse und eheliche Bündnisse mit menschlichen Jünglingen ein. In manchen Gegenden werden sie vom wilden Jäger oder seinen Knechten wütend verfolgt. Sie werden auch wohl als Baumseele aufgefaßt, weil sie sterben müssen, sobald man ein Bäumchen schält, ausreißt oder doch den Bast verletzt. Sie bitten den Holzhauer, der einen Baum fällen will, um Schonung und stehen ihm dafür bei, wenn er sich verirrt. Andere, besonders die riesenhaften Waldleute führen die Menschen auch absichtlich irre und verwandeln die sie ärgernden in einen Baumstumpf, andere wieder schützen die menschlichen Kinder beim Beerensuchen. In Tirol heißen die wilden Waldweiber Fangga, behaarte, häßliche, schauerliche Riesengestalten, stets begierig auf Menschen-, besonders Kinderfleisch. Auch ihre Männer sind Menschenfresser, ihre Frauen müssen sogar die eigenen Kinder schützen. So gibt es fast in jeder Gegend diese Gebilde der Sage mit besonderem Charakter.

Nicht nur der Wald, sondern auch das Feld, besonders das von goldenen Früchten strotzende Kornfeld ist von der Sage belebt; hier wohnt die Kornmutter, Roggenmuhme, die Alte oder der Roggenhund, Roggenwolf, Hafermann, Haferkönig, Kornstier u. a. genannt. Das im leichten Winde sanft wogende Korn erweckt im Gemüt den Eindruck des Beweglichen, des Lebenden, und darum denkt die Sage das

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Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/83&oldid=- (Version vom 31.7.2018)