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uns wie ein Märchen aus Tausend und eine Nacht von einer um Mitternacht singenden Blume. Schon die klassische Sage kennt die goldenen Äpfel der Hesperiden, und unseren Vorfahren galten die uralten Bäume der heiligen Haine für besonders ehrwürdig; hier dachten sie ihre Götter wohnend, oder hier glaubten sie ihnen besonders nahe zu sein. In vielen Sagen gibt es noch heute die Wunderblume. Auch die zauberkräftige Springwurzel gehört dem Pflanzenreich an, nicht minder der unter besonderen Umständen und Förmlichkeiten hergestellte schwarze Zauberstab der Zauber- und Hexenmeister. Die meisten Pflanzen, die in der Volksmedizin eine Rolle spielen, sind auch für die Sagenwelt wichtig.

Die Rose ist seit jeher eine Lieblingsblume der Deutschen gewesen. Sie ist Sinnbild des Lebens und in den Sagen eine liebe Bekannte. Es sei nur an die Sagen vom 1000jährigen Rosenstock in Hildesheim erinnert, wo die Rosen aus einem Dornstrauch hervorgesproßt sein sollen, an den ein auf der Jagd verirrter Kaiser sein goldenes Kreuz hing; das Brot der heiligen Elisabeth verwandelte sich in der Stunde der Not in ihrer Schürze zu Rosen; jeder kennt auch das liebliche Märchen vom Dornröschen, auf das hier ja auch wohl kurz hingewiesen werden darf.

Die Lilie ist ein Bild des Todes, in ihrer reinen Weiße an die hellglänzenden Engel erinnernd. Bekannt ist die Sage von der Lilie von Korvey, die ganz ähnlich von den Klöstern in Heisterbach, Hildesheim und Breslau erzählt wird. Jeder Mönch fand als Todesboten drei Tage vor seinem Hinscheiden auf seinem Chorstuhle eine Lilie. Ein jugendfrischer Mönch legte sie einst ungesehen von seinem Platze auf den eines betagten Greises, der vor Schreck krank wurde, aber doch wieder genas, während der junge Mönch am dritten Tage plötzlich starb.

Noch von vielen andern Blumen erzählt die Sage. Der Wegwart soll eine Frau oder eine Jungfrau sein, die am Wege auf den Gemahl bzw. Geliebten wartet und vor Gram in eine Blume verwandelt wurde. Die Schlüsselblume wird uns in manchen Märchen als die Wunderblume hingestellt, die den Eingang zu großen unterirdischen Schätzen öffnet. Das vierblättrige Kleeblatt gilt noch heute als glückbringend und das nicht nur im sogenannten Volke; es soll auch Zauber erkennen helfen. Der Farnsamen

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Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/97&oldid=- (Version vom 31.7.2018)