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zu fassen und darzustellen die Hauptaufgabe war, die die Kunst zu lösen anstrebte. Diese Epoche ist in der Malerschule Ferrara’s hauptsächlich durch Cosimo Tura und Francesco Cossa repräsentirt. In ihrer Heimat nahm der eine wie der andere dieser bedeutenden, charaktervollen Meister denselben Platz ein, welchen in der umbrischen Schule Pier dei Franceschi oder della Francesca, in der florentinischen Fra Filippo, Andrea del Castagno, Antonio del Pollajuolo; in der venezianischen die Vivarini und andere; in der paduanischen Mantegna, Dario von Treviso, Carlo Crivelli; in der veronesischen Liberale und Consorten; in der lombardischen Vincenzo Foppa behauptet haben. Die oberitalienische Kunstepoche wird von den Kunsthistorikern gemeinhin die Mantegneske genannt, und ich lasse gern diese Bezeichnung gelten, falls man damit nur betonen will, daß Andrea Mantegna eben der größte Vertreter dieser Periode der Kunst gewesen sei. Sollte man aber damit sagen wollen, daß die Repräsentanten dieser Epoche in den andern Kunstschulen des Pothales den Mantegna nachgeahmt hätten und von ihm sich direkt hätten beeinflussen und den Weg weisen lassen, so muß ich auf das entschiedenste dagegen als eine oberflächliche und flache Anschauung und Auffassung der Kunstgeschichte protestiren[1]. Die Geschichte der einzelnen Kunstschulen


  1. Man hat z. B. namentlich die Veroneser Francesco Carotto, Bonsignori und Giolfino als Nachahmer des Mantegna hingestellt. Nun bitte ich jeden unbefangenen Kunstfreund die Jugendwerke (um 1500) des Carotto in den Galerien von Modena (No. 50), Maldura zu Padua, Städel zu Frankfurt (No. 145) sich genauer anzuschauen, und man wird mir zugeben, daß die eben genannten Madonnenbildchen des Carotto in der Zeichnung und Formgebung ebenso sehr an seinen Lehrer Liberale als an Mantegna erinnern. Im Colorit aber ist Carotto stets und durchaus Veroneser geblieben. Man studire ferner die mit dem Namen bezeichneten Werke des Bonsignori (in den Kirchen von Santa Eufemia, von S. Bernardino, von S. Paolo und in der städtischen Galerie von Verona, und ich zweifle nicht, daß jeder Sachkundige in denselben wohl den [125] Einfluß des Giambellini, auch den des Alvise[a 1] Vivarini, nur nicht den des Mantegna wahrnehmen wird. Bonsignori hat allerdings später in Mantua manches von seinem großen Collegen gelernt. Ja, selbst die Werke des persönlichen Freundes des Mantegna, Niccolò Giolfino, in der Kirche von S. Anastasia und in der städtischen Galerie von Verona zeugen nicht von dem Einflusse des gewaltigen Paduaners; sondern einem jeden, der sie näher betrachtet, sagen sie es klar heraus: wir sind Werke eines Schülers unseres Landsmannes Liberale! Hat man doch selbst Bilder der Florentiner Botticcelli und Antonio del Pollajuolo dem Mantegna zugemuthet. So werden aus reiner Unkenntniß Werke aus derselben Kunstepoche von oberflächlichen Kennern jedesmal dem größten Vertreter der betreffenden Epoche, hier dem Mantegna, dort dem P. Perugino u. s. f., zugeschrieben.

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  1. Vorlage: Aloise
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/143&oldid=- (Version vom 31.7.2018)