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wird man nur so richtig verstehen lernen, daß man, wie schon gesagt, diese als ein lebendiges Ganze betrachtet und studirt, gleich einem Organismus, welcher vom Keime an bis zu seinem Ersterben seine Entwicklung hat, von Stufe zu Stufe steigt, um dann von Stufe zu Stufe zu sinken[1]. In der Malerschule von Venedig, welche das Glück hatte, durch keine äußeren Umstände in ihrem Lebensgange gestört zu werden, kann man die ganze Parabel, welche die


  1. Technische Mittel mag allerdings eine Schule in der andern erlernen und sich aneignen, Auffassung und Empfindung aber sind als etwas lebendiges, durch und durch innerliches, wie die Sprache, stets Sache des Individuums und somit der Nationalität, der Rasse. Antonello von Messina hat das Eyck’sche Malsystem von einem Flamländer erlernt, trotzdem ist er in seinen Darstellungen Italiener geblieben; Dürer war längere Zeit in Venedig, nichts destoweniger sieht der deutsche Künstler aus jedem seiner Striche heraus. Den äußeren Einfluß irgend eines Toskaners auf irgend einen Lombarden, eines Lombarden auf einen Venezianer oder umgekehrt, lasse ich natürlich, das versteht sich von selbst, gelten. Es wäre lächerlich, leugnen zu wollen, daß Italiener nicht auf einzelne Flamländer oder Deutsche eingewirkt, oder daß die großen Repräsentanten nordischer Kunst, wie van Eyck und Dürer von manchem Italiener nachgeäfft worden seien. Dies kann aber noch nicht beweisen, daß die Kunstschule als solche dadurch in ihrem besonderen Entwicklungsgange gestört oder auf irgend eine Weise beeinflußt worden sei, wie dies doch noch heutzutage von so manchem Kunsthistoriker behauptet wird.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/144&oldid=- (Version vom 31.7.2018)