Seite:Die Werke italienischer Meister (Morelli).pdf/167

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

diesen Meister ebenfalls nachzuahmen sich angelegen sein ließ. Ich habe schon bei Besprechung der in der Münchener Galerie enthaltenen italienischen Gemälde die Unrichtigkeit dieser Anschauung nachzuweisen versucht. Sie beruht auf einer oberflächlichen Auffassung der Entwicklung der Malerei in Italien. Ich erlaube mir nun bei dieser Gelegenheit wieder auf diesen Punkt zurückzukommen.

Hat die Kultur eines Volkes ihren Gipfelpunkt erreicht, so sehen wir überall, im täglichen Leben wie in Literatur und Kunst, daß die Anmuth mehr geschätzt wird als der Charakter. So war es in Italien während der letzten Decennien des 15. und den ersten des 16. Jahrhunderts. Keinem Künstler ist es nun vergönnt gewesen, dieser Empfindung einen so prägnanten Ausdruck zu geben, als dem großen Leonardo da Vinci, vielleicht der reichst begabte Mensch, den die Mutter Natur je geschaffen. Er ist der erste gewesen, welcher das Lächeln des innern Glücks, die Anmuth der Seele darzustellen angestrebt hat. Dieses Ziel konnte aber zum Theil nur durch ein feineres Verständniß der malerischen Modellirung d. h. des Helldunkels erreicht werden, und Leonardo widmete daher diesem Studium auch die besten Stunden seines mailändischen Aufenthaltes (1485–1500)[1].

Fast zur nämlichen Zeit, und gewiß ganz unabhängig von Leonardo, führte in Venedig der historische Entwicklungsgang der Kunst den Giorgione auf denselben von Leonardo eingeschlagenen Weg. Ich meine nun, daß Lorenzo Lotto hauptsächlich in dieser Hinsicht als Gefährte und Nachfolger seines Landsmannes Barbarella angesehen werde müsse. Sowohl Lotto als Giorgione haben den Leonardo da Vinci, obwohl dieser in den letzten Monaten des Jahres 1499 kurze Zeit in Venedig sich aufhielt[2],


  1. Siehe darüber einige seiner Aphorismen in dem bekannten „Trattato della Pittura“.
  2. Leonardo da Vinci muß in den ersten Tagen des Oktobers 1499 (kurz vor dem Einzug der Franzosen in die Stadt) Mailand verlassen und von da über Venedig seinen Weg nach Florenz genommen haben.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/167&oldid=- (Version vom 31.7.2018)