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schwerlich persönlich gekannt, noch eines seiner Werke zu Gesicht bekommen. Dasselbe gilt aber auch ja noch viel mehr von Correggio. Diesem großen Meister fiel das beneidenswerthe Loos zu, den von Leonardo, von Giorgione und sodann von Lorenzo Lotto angeschlagenen Saiten den reinsten, den vollsten Klang entlockt zu haben. Ich glaube nun nicht, daß jene vier Männer je in künstlerischen Beziehungen zu einander gestanden haben. Es ist eben ein und dieselbe Empfindungsweise, welche alle vier beseelte und in ihren Werken einen Ausdruck fand. Diese Empfindungsweise lag, wie gesagt, als Ergebniß der Entwicklung des menschlichen Geistes in der Zeit selbst, in der sie lebten und wirkten. – Der aus den Windeln der mittelalterlichen Anschauung und Empfindung sich freimachende Geist schaute mit der naivsten, lebendigsten Freudigkeit den ganzen, den freien Menschen, gleichwie ehedem das Auge der Griechen. Und ist es nicht diese Siegesfreude, den wahren, lebendigen, freien Menschen wieder gefunden zu haben, welche aus den Werken der großen italienischen Meister während des ersten Decenniums des 16. Jahrhunderts zu uns spricht? Dieses Gefühl der errungenen Freiheit belebte die Gestalten nicht nur des Correggio, sondern auch des Michelangelo; die Hauptvertreter dieser Geistesrichtung in der bildenden Kunst, so verschieden auch ihre Denk- und Gefühlsweise in allem übrigen sein mochte. Michelangelo, einer florentinischen Patrizierfamilie entsprossen und in einer reichen, glanzvollen, aber politisch zerrissenen Stadt aufgewachsen, zu einer Zeit wo es dort mit dem moralischen Charakter bereits zur Neige ging, ward frühe schon von seinem hochsinnigen, stolzen, die Unabhängigkeit liebenden Naturell bitter gestimmt gegen die Charakterlosigkeit und eitle Genußsucht seiner Zeitgenossen.

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/168&oldid=- (Version vom 31.7.2018)