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Darf ich es aber wagen, meine haeretische Meinung über dieses Bild offen auszusprechen?

Als ich das letzte Mal vor demselben stand und im Begriffe war, einige kritische Bemerkungen in mein Notizbüchlein einzutragen, trat ein älterer Herr mit seiner Tochter auch in die Nähe dieses vermeintlichen Juwels, um, wie es nicht anders zu vermuthen war, das höchste Entzücken zu äußern.

„Ach“, rief die Dame aus, indem sie ihre goldene Brille näher an’s Auge rückte, „ein so köstliches, tiefempfundenes Gemälde giebt es nirgends sonst in der Welt; je mehr ich’s betrachte, je mehr ich’s in mich aufnehme, desto mehr begeistert es mich; ich muß gestehen, Papa, daß ich diese schöne Sünderin des Correggio selbst den Madonnen Raphael’s und Holbein’s vorziehe. Wie herrlich würde sich das in unserm Salon ausnehmen, der ja Nordlicht hat.“

„Ja, so ein Bild“, schmunzelte der Herr Papa, ein kleiner, rothbackiger Herr, „so ein Bild ist wohl seine hunderttausende von Mark werth.“

Bei diesen enthusiastischen Expectorationen trat ich etwas zurück, um den Leutchen Platz zu machen, damit sie den Gegenstand ihrer Bewunderung schärfer in’s Auge fassen könnten.

„Bitte, bitte“, sagte der höfliche Papa zu mir, „wir wollen Sie durchaus nicht stören, zumal wir sehen, daß auch Sie dieses Kleinod aller Kleinodien zu würdigen wissen. Ich und meine Tochter, Elise von Blasewitz aus Plauen, welche ich Ihnen hiermit vorstelle, wir kennen ja das Bild schon seit Jahren; ja, ja, eine sehr alte Bekanntschaft, wir haben’s ja auch sehr gut gestochen zu Hause und wissen es also auswendig. Sie aber, mein Herr, scheinen fremd zu sein und besuchen wohl diese Galerie zum ersten Male?“

Gegen meine Absicht war ich in ein kunstästhetisches Gespräch hereingezogen.

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/173&oldid=- (Version vom 31.7.2018)