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zu Dresden dieses Bild in seinem achtzehnten Jahr gemalt. Für jeden Kunstbeflissenen ist diese letztere Versicherung von um so größerem Werthe, als man sonst nirgends, soviel wenigstens mir bekannt ist, beglaubigte Bilder aus der Jugendzeit Leonardo’s zu sehen bekommt. Wie aber sind die Herren Hübner und Gruner dazu gekommen, den achtzehnjährigen Leonardo, den Leonardino, wie ihn die Florentiner nennen würden, in diesem Bilde zu erkennen? Hören wir sie selbst. „Das Bild des Leonardo da Vinci (Seite 56 der Vorrede) wurde im Katalog der Woodburn-Sammlung als ein Werk des Lorenzo di Credi bezeichnet, von den Unterzeichneten aber sofort als ein Jugendwerk des Leonardo, und als ein solches vom höchsten Werthe, erkannt. – – – Es fand sich nämlich ganz zufällig in hiesiger k. Sammlung der Handzeichnungen das Studium zu der Madonna des genannten Bildes, eine Zeichnung, welche seit undenklichen Zeiten bereits unter dem Namen des Leonardo der Sammlung angehört hatte und dieser Bezeichnung in der That ebenso vollständig entspricht, als das Bild selber.“ Ich gestehe, daß mir jenes „ganz zufällig“ als eine Art excusatio non petita einigen Verdacht erregte und mich von vornherein etwas bedenklich machte. Wäre es nicht möglich, daß jener etwas übereilte, an Julius Cäsar gemahnende Urtheilsspruch der sonst so vorsichtigen und gelehrten Herren vielleicht auf einer falschen Prämisse fußte, wie das ja bei andern gelehrten Männern hie und da auch vorkommt? Als ich mir sodann die bewußte Leonardo-Zeichnung genauer besah, schien es mir offenbar, daß mein Verdacht nicht ganz aus der Luft gegriffen wäre. Als jene Herren des Woodburn’schen Bildchens in London ansichtig wurden, dachten sie unwillkürlich und, ich gebe es gern zu, ohne sich weiter darüber Rechenschaft zu geben, an die „dem Leonardo seit undenklichen Zeiten zugeschriebene Zeichnung“, die sie zu Hause unter Glas im Kabinete der Handzeichnungen zurückgelassen hatten,

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/259&oldid=- (Version vom 31.7.2018)