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und folgerten sodann: ist jene Zeichnung von Leonardo, wie sie denn von Jedermann als unbestritten echt angesehen wird, so muß ja auch dieses Bildchen, das jener Zeichnung so nahe kommt, vom nämlichen Meister herrühren. Da aber, fuhren sie wahrscheinlich in ihrer Folgerung fort, diese kleine Madonna von den berühmten Bildern des Leonardo sehr verschieden ist, so müssen wir dasselbe als ein Jugendwerk des Altmeisters ansehen und ausgeben. Gesagt, gethan; von der Themse an die Ufer der Elbe zurückgekehrt, wurde sogleich der akademische Areopag zusammenberufen, und demselben das angekaufte Kleinod zur Beurtheilung vorgestellt, wobei, wie sich von selbst versteht, nicht vergessen wurde, die bekannte Handzeichnung aus ihrem Behälter herauszuziehen und neben das Bildchen zu legen. Und siehe da! Die kleine Madonna, welche in London Lorenzo di Credi hieß, wurde an der Elbe einstimmig als ein Jugendwerk des Leonardo da Vinci erkannt und so die Taufe der Herren Hübner und Gruner endgültig bekräftigt, besiegelt und in den Katalog eingetragen. – So ungefähr mag der Hergang der Sache gewesen sein, und sollte ich darin mich irren, so bin ich gewiß, daß die liebenswürdigen und gelehrten Herren an der Elbe dies mir nicht verargen werden.

Gehen wir aber nun zur Sache selbst über.

Wer die echten Handzeichnungen Leonardo’s in Windsorcastle, in Paris, in Turin, Mailand, Venedig, Wien, Pesth und Florenz sich etwas genauer besehen und studirt hat, der wird die Silberstiftzeichnung dieser weiblichen Figur zu Dresden schwerlich dem Geiste und der Hand Leonardo da Vinci’s zuzuschreiben geneigt sein. Die Art der Behandlung erinnert allerdings entfernt an Leonardo, richtiger gesagt an die Schule, aus der Leonardo hervorgegangen, allein das Oval dieses weiblichen Kopfes scheint mir doch in nicht geringem Maße verschieden zu sein von dem der weiblichen Köpfe dieses Meisters; auch sind

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/260&oldid=- (Version vom 31.7.2018)