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haben dürfte[1]. – Die Composition und die malerische Ausführung jedoch gehören, meiner Ansicht nach, unbedingt ihm, dem verachteten Pinturicchio an, und keinem andern.

Vasari, sei es aus Leichtfertigkeit, sei es vielleicht auch in der Absicht, den Perugino, der ja in Toskana sich ausgebildet hatte, in helleres Licht zu stellen, behandelt den Pinturicchio mit der schreiendsten Ungerechtigkeit und Parteilichkeit. Von diesen seinen zwei Wandgemälden in der Sixtina giebt er das eine dem Pietro, über das andere beobachtet er völliges Stillschweigen. Und während er es dem Botticelli und andern Zeitgenossen gar nicht übel anrechnet, daß sie in ihren Malereien, weil’s damals Brauch war, des Goldes sich reichlich bedienen, um ihren Bildern dadurch mehr Glanz zu verleihen, findet er bei Pinturicchio diese Angewöhnung dumm und von ihm nur in der Absicht befolgt, damit den Beifall der unwissenden


  1. So scheint z. B. in der „Taufe Christi“ Pinturicchio sowohl die Figur des Täufers als jene des Erlösers jener Federzeichnung des Perugino entlehnt zu haben, die sich in der Sammlung des Louvre befindet, und die im Braun’schen Kataloge die Nummer 297 führt. Man stelle nun diese Federzeichnung Pietro’s neben die Federzeichnungen der venezianischen Sammlung, und man wird, hoffe ich, nicht zögern, den Unterschied, der nicht nur in den Formen, sondern auch in der Strichführung zwischen der einen und den andern Zeichnungen besteht, anzuerkennen. Uebrigens hat Pinturicchio im Gemälde manche Modificationen eingeführt. So ist, um einige davon hier anzuführen, das Tuch um die Lenden Christi im Gemälde ganz anders gelegt, als in der Zeichnung, und ebenso ist die Lage der Haare im gemalten Christus verschieden von der im gezeichneten. Stellung und Ausdruck des Kopfes des Täufers, sowie die Bewegung seines rechten Armes, die Lage des Mantels auf dem linken Arme, die Stellung seines linken Fußes u. a. m. weichen im Gemälde, nach meiner Ansicht, vortheilhaft von der Zeichnung ab. Man könnte somit annehmen, Pietro habe seine Federzeichnung als Studie zu einem seiner frühern Bilder gemacht und dieselbe dann seinem Freunde und ehemaligen Schüler Pinturicchio zu seinem Wandgemälde in der Sixtina überlassen. Zu jenen Zeiten war ja unter den Zunftgenossen das gegenseitige Geben und Nehmen allgemeiner Gebrauch.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/327&oldid=- (Version vom 31.7.2018)