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Menge sich zu erwerben. Zu seinen Fresken in der Libreria des Domes von Siena läßt er sodann den fünfzigjährigen, erprobten Meister Pinturicchio sich vom zwanzigjährigen Raffael die Skizzen und sogar die Cartons machen u. s. w. (Vasari V, 265). Dieses herbe Urtheil des Aretiners wird nun während mehr als drei Jahrhunderten von der langen, immer anwachsenden und unabsehbaren Procession der Kunstforscher litaneimäßig wiederholt[1]. Ich will damit den Pinturicchio keineswegs in Allem freisprechen; ich weiß gar wohl, daß die Gewinnsucht auch ihn manchmal liederlich und gewissenlos machte, allein war dies nicht auch bei Pietro Perugino und bei andern berühmten Malern der Fall? Meine Absicht bei dieser langen, leider viel zu langen Auseinandersetzung konnte nur die sein, dem verkannten Künstler, der in seiner Jugend ja so Schönes geschaffen, wo möglich in jene Ehrenstelle wieder einzusetzen, die er bei seinen Lebzeiten eingenommen[2], indem ich sein bestes Eigenthum, dessen er durch Ungunst und durch die Verblendung der Nachwelt beraubt wurde, ihm wieder zuzustellen trachtete. Denn nicht zufrieden, seine Werke in Rom theils dem Signorelli, theils dem Perugino zuzuschreiben, werden noch heutigen Tages seine Handzeichnungen in Venedig, in Florenz, in Paris und in Wien von Alt und Jung als bewundernswürdige Ergüsse des göttlichen Raffael in den Himmel erhoben und allenthalben von den Kunsthistorikern als Muster des feinsten und erhabensten Kunststiles bezeichnet.

Zur warnenden Belehrung meiner jungen Landsleute,


  1. Allein Rumohr, der, wenn ihn gerade die Lust anwandelte, unabhängiger und vorurtheilsfreier[WS 1] als Andere forschte, dürfte hier in gewisser Beziehung als Ausnahme bezeichnet werden. Siehe II, 330–333, was er über den Pinturicchio sagt.
  2. Im Jahre 1501 wurde Pinturicchio an die Stelle des Pietro Perugino zum Decemvir von Perugia erwählt, ein Beweis mehr, daß er in seiner Vaterstadt großes Ansehen genoß.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: vorurtheisfreier
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/328&oldid=- (Version vom 31.7.2018)