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dazu beigetragen, daß der große Irrthum, den Vasari aus Leichtfertigkeit begangen, bis auf unsere Tage in Geltung erhalten worden ist. Der eine dieser Umstände scheint mir der zu sein, daß fast alle Kunsthistoriker, die sich mit Raffael beschäftigten, bloß auf die Aussage des Vasari hin den jungen Raffael schon im Jahre 1495 nach Perugia in die Werkstätte des P. Perugino kommen ließen; der andere und wohl der hauptsächlichste muß in jener gänzlichen Vernachlässigung gesucht werden, welche die Kunstforschung seit Vasari bis auf unsere Zeiten dem Timoteo Viti gegenüber sich hat zu Schulden kommen lassen.

Wenn wir den eben nicht sehr kunstverständigen Gelehrten Pungileoni ausnehmen, so fragen wir vergeblich, welcher Kunstforscher von irgend welcher Bedeutung hat dieses liebenswürdigsten Schülers des Francia sich angenommen, seine Werke studirt und dieselben mit den Jugendarbeiten seines jungen Landsmannes Raffael Sanzio verglichen?

Dies ist leider so wenig geschehen, daß sogar die umsichtigsten und gewissenhaftesten Historiker der italienischen Malerei, die berühmten Herren Cr. und Cav., nicht als Ausnahme dastehen, sondern vielmehr fortfahren, die heterogensten Malereien demselben Timoteo Viti zuzuschreiben.

In der Absicht, jungen Kunstbeflissenen einen kleinen Leitfaden an die Hand zu geben, der ihnen vielleicht dienen könnte, sich diesen ganz und gar verkannten Meister in größerer Nähe und von verschiedenen Standpunkten besehen und studiren zu können, lade ich sie ein, mit mir vorerst die von Vasari und folglich ebenfalls von Passavant und den Herren Cr. und Cav. ihm zugeschriebenen Werke sich ansehen zu wollen, um sodann zur kritischen Musterung derjenigen Gemälde überzugehen, die theils von Passavant, theils von den neuesten Historiographen der italienischen Malerei dem Vasarischen Inventarium der Werke des Timoteo Viti noch hinzugefügt wurden. – Eine solche

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/354&oldid=- (Version vom 31.7.2018)