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mit den Sibyllen, daß ohne allen Zweifel dem Raffael bloß die Kartons dafür zugeschrieben werden dürfen, während er die Ausführung der Malerei einem seiner Gehülfen wird überlassen haben. Hat also, wie Vasari berichtet, Timoteo Viti bei dieser Arbeit dem Raffael Hülfe geleistet, so kann diese Cooperation sich bloß auf die „Propheten“ beziehen[1]. Dies Urtheil des Frankfurter Gelehrten wurde später von den Herren Cr. und Cav. nicht nur besiegelt, sondern die Historiographen der italienischen Kunst glaubten, wie man zu sagen pflegt, noch das Tüpfelchen auf’s i setzen zu müssen, indem sie dem Timoteo außer den Propheten auch noch die Ausführung der „draperies“ der Sibyllen zuerkennen (Vol. I, 581). Ich muß hier gestehen, hätte ich nun zwischen den Urtheilssprüchen der drei größten neuern Kunsthistoriker, d. h. zwischen dem des Herrn Passavant einerseits und dem der Herren Cr. und Cav. andererseits, mich zu entscheiden, so würde ich dem Passavant’schen fast den Vorzug geben, also die „draperies“ der Sibyllen vorderhand noch dem Raffael lassen, und zwar so lange, bis aus einem neuen wichtigen Dokumente hervorleuchten sollte, daß jene „draperies“ wirklich von Timoteo Viti und nicht von Raffael selbst gemalt worden sind[2].

Fragen wir uns jedoch in allem Ernste, woher kam es denn, daß ein so liebenswürdiger, anmuthiger, in seiner Weise und für seine Zeit so bedeutender Künstler, als welcher Timoteo Viti in seinen Werken sich uns offenbart, von allen Schriftstellern über die italienische Kunst bis jetzt so ganz und gar verkannt werden konnte? Täusche ich mich nicht, so haben zwei Umstände wohl am meisten


  1. Passavant a. a. O. I, 157. Es ist immer bedenklich, dem Vasari blindlings Glauben zu schenken. Passavant hätte aus langer Erfahrung wissen sollen, daß, wer die „Vite“ nicht cum grano salis liest, stets Gefahr läuft, in eine Grube zu fallen.
  2. Dies Wandgemälde in der Kirche della Pace ist leider so abscheulich überschmiert worden, daß man darin höchstens noch die Composition bewundern kann.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/353&oldid=- (Version vom 31.7.2018)