Seite:Die Werke italienischer Meister (Morelli).pdf/362

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

nun ohne Lehrer und Leiter in seiner Kunst geblieben war. Maler von einiger Bedeutung befanden sich, soviel mir bekannt ist, zu jener Zeit nicht in Urbino. Kann man es daher unwahrscheinlich nennen, daß der junge Raffael an seinen um fünfzehn Jahre ältern Landsmann sich angeschlossen und bei diesem seine durch des Vaters Tod unterbrochenen Studien in der Malerei fortgesetzt habe?

Timoteo war eine liebenswürdige, offene, reine Künstlernatur, und so erwarb er sich auch, wie wir aus dem Tagebuche des Francia ersehen, die ganze Liebe seines Lehrers in Bologna. Ist es unter diesen Verhältnissen nicht auch wahrscheinlich, daß die gegenseitige Achtung und Freundschaft, welche später zwischen dem jungen Raffael und Francia bestand, eben durch Timoteo vermittelt wurde?

Allein, wird man vielleicht mir in’s Wort fallen, wie könnt Ihr nur annehmen, daß ein Genie, wie Raffael, von einem so mittelmäßigen Maler, wie Timoteo Viti gewesen zu sein scheint – nach seinen Bildern in der Berliner Galerie und nach dem malenden h. Lucas in der Akademie von Rom wenigstens zu schließen – beeinflußt worden sei, während es uns doch viel einleuchtender ist, daß auch Timoteo, gleich allen andern Künstlern, die das Glück hatten, Raffael sich zu nähern, von dessen Geiste bezaubert, nach der Raffael’schen Manier die seine modifizirt habe? Dem habe ich zu entgegnen: Dies mag alles ganz schön und gut sein, aber logisch ist es nicht. Denn erstens hat Timoteo Viti wenige Jahre nach seiner Rückkunft nach Urbino ein s. g. Raffael’sches Bild gemalt, zu einer Zeit also, wo Raffael kaum fünfzehn Jahre zählen konnte; zweitens wissen wir, daß Raffael nach seiner Abreise von Urbino, um 1500, nur ein paar Male, nämlich im Jahre 1504 und im Jahre 1506, seine Vaterstadt wieder besuchte und dort für nur kurze Zeit sich aufhielt. Im Oktober dieses letzteren Jahres geht Raffael von Urbino nach Florenz. Wir wissen ferner, daß Timoteo Viti im Jahre 1501 die Girolamo Spaccioli heirathete, und daß er von jenem

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/362&oldid=- (Version vom 31.7.2018)