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Zügen noch treu bleibt[1]. Doch genug davon, denn ich fürchte fast, meine jungen Freunde durch solche etwas gar zu pedantische und in’s Detail sich verlierende Auseinandersetzungen ermüdet zu haben. Mögen sie mir dieselben zu Gute halten und bedenken, daß mir diese Frage fast zu einer Herzensangelegenheit geworden ist. Es ist meine durch gewissenhafte Studien in mir herangereifte Ueberzeugung, daß nämlich Raffael seine erste Lehrzeit nicht in Perugia, sondern in Urbino gemacht und die frühesten und somit tiefsten Eindrücke in seiner Kunst dort zuerst durch den Vater, sodann durch den anmuthigen Timoteo Viti empfangen habe. Diese Ueberzeugung auf irgend einen jungen Kunstbeflissenen, dessen Geist von den verschimmelten Vorurtheilen sich noch frei erhalten, mittheilen zu können, wäre mein sehnlichster Wunsch. Will es mich doch bedünken, daß das Studium und die Ergründung des Bildungsprocesses dieses vollkommensten Vertreters der italienischen Kunst für einen jungen Forscher eine gar reizvolle Aufgabe wäre.


  1. Die Form der Hand der Jungfrau, die hinter der Maria steht, ist z. B. ganz Timoteisch, jene dagegen des Jünglings hinter dem h. Joseph vielmehr Peruginisch, und ebenfalls in der Art des Perugino ist der landschaftliche Hintergrund mit dem schönen Tempel in der Mitte. Es gehört mir zur großen Genugthuung, in dem Abschnitte, den Baron von Rumohr in seinen Forschungen der Entwicklung des jungen Raffael widmet, eine Stelle zu finden, welche beweist, daß jener feine unabhängig urtheilende Kunstforscher ungefähr zur nämlichen Wahrnehmung gelangte, die ich soeben meinen Lesern vorzutragen mir erlaubte. „Es verwirrt uns, sagt Rumohr, wenn wir sehen, daß Künstler von der Stufe, welche sie schon eingenommen, sich zurückwendend, ältere Eindrücke, welche vergessen schienen, wiederum auffrischen, in’s Leben rufen, mit dem neu Erworbenen vermählen. Selten ist die Entwicklungsgeschichte selbst berühmter Künstler umständlich bekannt; auch die Raffael’s zu summarisch, um schon daraus die Verschiedenheit der Erscheinungen seines Jugendlebens erklären zu können. Also werden wir von der Annahme ausgehen müssen, daß er seit seinem Austritt aus der väterlichen Schule unabhängiger gelebt und gewirkt habe, als geglaubt wird, u. s. w. (III, 34).
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/371&oldid=- (Version vom 31.7.2018)